Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
an, um nicht zu frieren, und bald wusste sie, dass sie schwanger war. Das Versprechen, ihr Leben mit Harris zu teilen, gab sie ohne den geringsten Vorbehalt. Er war das Einzige in ihrem Leben, an dem sie keine Zweifel hatte. Mehr war ihr kleines Experiment in Pleasant Hill nicht gewesen, nur ein kurzer Moment, und jetzt sah sie das. Schwester Georgia half ihr, es so zu sehen und sich etwas besser dabei zu fühlen.
»Dein Leben fängt gerade erst an«, sagte sie, als Maze weinend zu ihr kam und ihr die zappelnde Marthie in den Arm drückte. »Für uns alle«, erklärte Georgia ihr, »war unsere Zeit hier nur ein kurzer Moment.«
Der Leiter des örtlichen Denkmalschutzverbandes, ein großer Mann namens Samuel Dibbet, der in seinem zugeknöpften Hemd und der Krawatte schwitzte, war früh an jenem Morgen, am Freitag, dem 25. Juni 1965, eingetroffen, um ihnen mitzuteilen, dass sie einen Monat Zeit hätten, das Gelände zu räumen. Das waren seine Worte: »Das Gelände räumen.« Er fügte noch hinzu, dass ein Monat großzügig sei, seiner Meinung nach, für eine Bande von Kriegsgegnern, die in Sünde lebten.
Maze erzählte Schwester Georgia nicht alles, was Samuel Dibbet an diesem Morgen gesagt hatte. Der Landkreis sei jetzt Eigentümer des Grund und Bodens, erklärte er ihnen, da nur noch eine gebrechliche und schwache und eindeutig demente Shaker-Anhängerin übrig sei. Es seien bereits Maßnahmen für ihre Unterbringung im Pflegeheim in Harrodsburg getroffen worden. Die wenigen anderen verbliebenen Familien würden Shakertown ebenfalls bald verlassen. Falls sie weiterer Erklärungen bedürften, sollten sie ihre langhaarigen Dozenten an diesem College doch bitten, ihnen den Begriff der Enteignung zu erläutern.
Als Dibbet wegfuhr, versuchte Phil, einen Witz über Dr. Wendts Kahlköpfigkeit zu machen, aber niemand lachte. Maze ging ins Haus, um das Kind zu stillen. Dann lief sie in die Schwesternwerkstatt und erzählte es Schwester Georgia.
Sie würden es in einen Touristenort umwandeln. Es war schon jemand da gewesen, um Schwester Georgia nach alten Shaker-Aufzeichnungen oder Artefakten zu fragen, die sie vielleicht noch besaß. »Ihr könnt haben, was die jungen Leute nicht wollen, wenn ich tot bin«, hatte Georgia der Frau gesagt und sie fortgeschickt.
An den meisten Gebäuden wurde bereits gearbeitet. Die Bruderwerkstatt und das Verwaltungshaus und das Wohnhaus der West-Familie waren frisch gestrichen, das alte Rot, Grau und Braun von leuchtendem Weiß und zartem Gelb ersetzt. Seit Wochen fuhren jeden Morgen ganz früh Handwerkertrupps vor. Das Dröhnen ihrer Motoren und das Brummen und Heulen ihrer Sägen durchdrang die klare Luft. Die Fußböden des Gemeindehauses waren auf Hochglanz poliert, die Wände in einem sauberen Weiß gestrichen, die Tür- und Fensterrahmen in einem gedeckten Blau. Die gespendeten Kleiderbündel und die Kisten mit Töpfen und Pfannen vom Wohlfahrtsverband waren verschwunden, ebenso wie das alte Klavier. Der Innenraum war völlig kahl, bis auf die umlaufenden Bänke an den Wänden – genau wie das Gemeindehaus dem Beschluss der Angehörigen des Denkmalschutzvereins zufolge während der aktivsten Phase der Shaker-Gemeinde vor über einhundert Jahren ausgesehen hatte.
Maze musste zugeben, dass alles sehr schön aussah. »Du solltest dir das Gemeindehaus ansehen«, sagte sie zu Schwester Georgia. »Du könntest da drin deinen Gottesdienst abhalten.« Maze hatte nach wie vor den Schlüssel, der, wie sie entdeckt hatte, auch nach wie vor passte.
Aber Georgia weigerte sich, die restaurierten Gebäude in Augenschein zu nehmen, obwohl während des Frühlings und Frühsommers jeden Tag ein anderer Vertreter des Denkmalschutzvereins in der Schwesternwerkstatt auftauchte und versuchte, ihr Interesse zu wecken. Seit dem Winter hatte sie das Haus kaum verlassen, und als das Wetter im April wieder wärmer wurde, war sie zu müde für den Marsch zum Holy Sinai’s Plain, sagte sie zu Maze. Sie verspüre jetzt kein Bedürfnis nach einem Gottesdienst dort oder auch woanders, und Maze drängte sie nicht zu weiteren Erklärungen.
Doch eine Woche nachdem Samuel Dibbet aufgetaucht war und ihnen einen Monat für die Räumung gegeben hatte, verließ Schwester Georgia die Schwesternwerkstatt mit neuer Energie, beinahe einem Federn im Schritt, unter dem Arm ein altes, mit Balsamtannennadeln gefülltes Shaker-Kissen aus zusammengenähten Musselinquadraten.
Sie fand Harris Whitman im Küchengarten, wo er
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