Wie ein Haus aus Karten
schließlich würde sie gegebenenfalls für mehr als hundert Mitarbeiter verantwortlich sein, antworte sie wahrheitsgemäß: »Bis jetzt waren wir nur drei, aber ich mag Menschen und arbeite gerne im Team.«
Zwei Tage danach erhielt sie die Nachricht, dass man sich einstimmig für sie entschieden habe. Sie bekam einen unbegrenzten und unkündbaren Vertrag. »So etwas ist nur in den Niederlanden möglich«, dachte sie, und dann überlegte sie erst einmal. Es war eine zwiespältige Situation. Die Galerien wollte sie nicht aufgeben, sie waren ihr Lebenswerk. Den Direktorenposten des größten Architekturmuseums weltweit nicht anzunehmen, auch das war ihr bewusst, würde sie immer als verpasste Chance empfinden. Die Entscheidung traf indirekt ihr Mann. Er erklärte sich bereit, die Galerien weiterzuführen. Sie war frei zu gehen. Beide sprangen sie ins kalte Wasser, er in Berlin, sie in Rotterdam. Aber er, dachte sie, nachdem sie den Artikel immer wieder gelesen hatte, war von Freunden umgeben. Sie musste die Menschen, mit denen sie zusammenarbeiten wollte, erst noch für sich und ihre Ideen gewinnen.
Die Begeisterung über die inhaltlichen Möglichkeiten, die das Museum ihr boten, überwog schließlich ihre Enttäuschung über die negative Reaktion ihrer Mitarbeiter. Der zentrale Ausstellungsraum war das großartigste Experimentierfeld, das sie sich vorstellen konnte. Wenn wir erst gute Projekte zusammen machen, dachte sie, werden wir uns auch verstehen. Und sie machten gute Projekte: bemerkenswerte Ausstellungen mit ungewöhnlichen Themen und spektakulären Rauminstallationen, die in der internationalen Fachwelt Aufmerksamkeit erregten. Sie fuhr nach Südafrika, um die Konzeption für die weltweit erste Ausstellung über Architektur und Stadtplanung nach der Apartheid vorzubereiten und einen geeigneten südafrikanischen Kurator zu finden; sie organisierte zur Fußballeuropameisterschaft in Rotterdam eine Ausstellung zur Architektur des Massensports, die so gestaltet war, dass Kinder darin Fußball spielen konnten; sie verwirklichte mit dem in den USA lebenden Architekten Daniel Libeskind ein Ausstellungsprojekt mit einer neun Meter hohen und zwanzig Meter breiten Installation aus Stahlplatten, die dessen konzeptionelle und gestalterische Haltung eindrucksvoll widerspiegelte. Plötzlich kam nicht nur das Fachpublikum ins Museum, sondern auch die breite Öffentlichkeit. Das war es, was sie erreichen wollte.
Die Mitarbeiter waren das von ihr vorgelegte Tempo zunächst nicht gewohnt. Einige gaben auf, doch die meisten ließen sich motivieren, zogen begeistert mit und entwickelten Eigeninitiative. Wenn wenige Minuten vor einer Ausstellungseröffnung noch die letzten Handgriffe getan werden mussten und sie ihre Begrüßungsansprache manchmal so lange hinzog, bis sie ein Zeichen bekam, dass alles fertig sei, wurde ihr auf einmal bewusst, dass sie und ihre Mitarbeiter ein eingeschworenes Team geworden waren. Der Erfolg gehörte allen, und jeder Einzelne fühlte das.
Nach fünf Jahren stand das Museum national wie international so gut da wie nie zuvor. Es hatte ihr die Möglichkeit geboten, ihrer Kreativität, ihren Ideen und ihrem Organisationstalent freien Lauf zu lassen. Sie hatte erreicht, was sie sich vorgenommen hatte – für das Museum und für sich selbst. Nach diesen ebenso euphorischen wie erschöpfenden Jahren wusste sie, dass es Zeit war zu gehen. Sie wollte wieder dahin zurück, wohin sie gehörte: zu ihrer Familie, ihrem Zuhause und ihrem eigentlichen Leben. Es war der Moment loszulassen.
Siebter Ort
Das Schloss auf dem Hügel
Der Beschluss meiner Pflegeeltern steht fest. Ich komme ins Internat. Mein Gastspiel in der Neckermann’schen Großfamilie dauert nur ein Jahr. Meine Rolle des unverstandenen, exzentrischen Teenagers wird nicht verlängert. Ich habe es meinen Pflegeeltern schwergemacht, und sie machen es sich leicht. Ich bin ein schwieriges Mädchen in einem noch schwierigeren Alter. Als meinen Bruder Mockel zehn Jahre vor mir das gleiche Schicksal ereilt, liegt es an den schweren Zeiten. Während Mockels Eltern unter seiner Abwesenheit leiden, ist meine Abwesenheit eine Erleichterung für die ganze Familie. Beide, meine Pflegeeltern wie meine Eltern damals bei Mockel, verbindet die gleiche Motivation: Sie wollen das Beste.
Die Wahl des Internats verdanke ich dem Umstand, dass man sich auf der Suche nach einer geeigneten Schule daran erinnert, dass mein Bruder Mockel bis zu seinem Tod auf Schloss
Weitere Kostenlose Bücher