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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Bieberstein, einem Landerziehungsheim der Hermann-Lietz-Schulen, gewesen ist, nicht so teuer wie Salem, aber doch standesgemäß. Das entsprechende Internat für Mädchen heißt »Schloss Hohenwehrda«. Beide gibt es noch heute, allerdings nicht mehr nach Geschlechtern getrennt.
    Ein glücklicher Zufall will es, dass ich meinem Bruder dort indirekt noch einmal begegne, als ich nach den Sommerferien von Walter Bauer, dem Privatchauffeur meiner Pflegeeltern, ins Internat gebracht werde. Ich gehe die breite Treppe, die vom Speisesaal zu den Räumen der Heimleiterin führt, hinauf, um mich bei ihr zurückzumelden, als ein Mann auf mich zukommt und ruft: »Du musst Mockels kleine Schwester sein!« Er hat mich an der Ähnlichkeit erkannt, von der ich nie zuvor gehört habe. Der Mann, der gerade eine Erinnerungs-Rundreise zu allen Hermann-Lietz-Schulen macht, war ein Klassenkamerad meines Bruders. Er ist sichtlich erfreut, die kleine Schwester seines großen Freundes zu sehen. Den stärksten Eindruck hat auf den damals Fünfzehnjährigen, wie er mir erzählt, die Mutter seines Freundes Mockel gemacht. »Deine Mutter war die temperamentvollste Frau, der ich je begegnet bin. Ich habe deinen Bruder um sie beneidet«, erinnert er sich mit einem Anflug von Wehmut. Als er damals für ein Wochenende mit nach Oberursel fährt, wird er Zeuge eines von Madys Wutausbrüchen, bei dem sie ein volles Tablett mit Geschirr durch die Küche schleudert und kurz darauf schon wieder in versöhnliches Lachen ausbricht.
    Das Internatsleben hat schon immer eine große Faszination ausgeübt, in der Literatur und auf der Leinwand. Doch was dieses Leben ausmacht, sind nicht die teils unterschwelligen, teils exzessiven Beziehungs- und Unterdrückungsmuster, die, wie bei Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß zur Lynchjustiz führen oder im Film »Mädchen in Uniform« der lesbisch liebenden Erzieherin zum Verhängnis werden. Das Besondere, das Prägende dieses Lebens ist das tagtägliche Gleichmaß, sind der monotone Rhythmus und die Begrenztheit auf einen engen Lebensraum in einer Phase, in der sich junge Menschen eigentlich nach außen zu orientieren beginnen.
    Das Internat bedeutet eine unfreiwillig zusammengewürfelte Gruppe von Menschen unterschiedlicher Generationen in einer hierarchisch angelegten Struktur mit einer klaren Rollenverteilung in Lehrende und Lernende. Dieses Nicht-entrinnen-Können, weder sich selbst noch dem Umfeld, führt zu einer Fokussierung, die ganz neue, bis dahin nicht wahrgenommene Gefühle, Gedanken und Talente freisetzt. Das, was einen prägt, ist nicht immer das, was man liebt.
    Diese nach innen gestülpte Welt, die keine beliebige, schnell mitgenommene Ablenkung zulässt, ist sicher die grundlegende Erfahrung meiner Internatsjahre. Ich sehe mich nach dem Mittagessen, wenn für mindestens zwei Stunden im gesamten Internat Ruhe vorgeschrieben ist, lange Spaziergänge durch den angrenzenden Wald machen. Oft enden sie an der Bahnschranke, dort, wo die Züge von Hersfeld in Richtung Fulda und weiter nach Frankfurt vorbeifahren. Die Schienen folgen an dieser Stelle einem Bachlauf, der an ein Wäldchen grenzt, das sich einen wellenförmigen Hügel hochzieht. Ich sitze in keinem dieser Züge, die wegen einer Kurve kurz vor der Bahnschranke ihr Tempo drosseln. Wenn sie vorbeifahren, versuche ich Gesichter zu erhaschen und ihnen eine eigene Geschichte zu geben. Ich bin gern an der Bahnschranke. Von meinem sicheren Platz am Waldrand aus reise ich in allen Zügen mit. Irgendwann, das weiß ich, werde ich selbst in einem dieser Züge sitzen. Es gibt keinen Grund zur Eile.
    In meiner Erinnerung an jene Jahre im Internat ist es immer Winter, obwohl das natürlich nicht der Realität entspricht. Dennoch ist das Gefühl von Kälte vorherrschend, trotz dicker Peter-Scott-Pullover, die fast bis zu den Knien reichen, und Wollröcken, die kratzen. Es ist verboten, Hosen zu tragen, auch im Winter. Ich friere viel. Da die Unterrichtsstunden in vier verschiedenen Gebäuden abgehalten werden und keine der Schülerinnen auf die Idee kommt, für die kurzen Wege einen Mantel mitzunehmen, ist das Krankenzimmer zu dieser Jahreszeit mit Grippepatientinnen überfüllt.
    Jeden Morgen geht es ohne Frühstück, oft noch bei Dunkelheit, im Laufschritt zur ersten Stunde und danach zur Morgenkapelle. Sie ist Pflicht für alle. Wir, neunzig Schülerinnen und rund zwanzig Lehrerinnen und Lehrer, stehen im Festsaal des ehemaligen Schlosses, oft

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