Wie ein Haus aus Karten
Vielleicht hat sie sogar daran gedacht. Aber es fehlt ihr die Kraft loszulassen.
Als die Lang- und die Neckermann-Geschwister gemeinsam in Oberursel im Garten toben, spielt der Familienname noch keine Rolle, für uns Kinder nicht und nicht für die Pflegeeltern. Auch in den ersten Jahren am Ostbahnhof wird noch kein erkennbarer Unterschied zwischen den eigenen und den angenommenen Kindern gemacht. Das geschieht erst allmählich und wird in dem Maße deutlich, in dem das Unternehmen wächst, die Familie zu Wohlstand und Ansehen kommt, inzwischen auch gesellschaftliche Verpflichtungen eine Rolle spielen und es die eigenen Kinder sind, die im Neckermann-Unternehmen arbeiten oder an der Firma beteiligt werden, sei es direkt oder indirekt. Meine Stiefbrüder Johannes und Peter treten in das Familienunternehmen ein, und meine Stiefschwester Evi ist über ihren Mann Hans Pracht, der nach der Heirat mit seiner Spedition in das Neckermann-Imperium einsteigt, mit der Firma verbunden. Die Pflegekinder werden nicht einbezogen.
Und ich, die Jüngste, weiß in diesen Jahren nicht, wohin ich gehöre. In meiner Zeit am Ostbahnhof, in der ich die Anna-Schmidt-Privatschule für Mädchen besuche, ehe mich meine Pflegeeltern aufs Internat schicken, steht auf meinen Schulheften und meinen Zeugnissen: »Tini Neckermann«. Bin ich nun eine Neckermann oder eine Lang, was, wenn mein Pflegevater es ausspricht, einem Schimpfwort gleichkommt? Und wer möchte ich selbst gerne sein?
Dazwischen 7
Sie ging in ihrem repräsentativen Arbeitszimmer, das die gesamte Breite des Museumsturmes einnahm, hin und her und blickte nachdenklich durch die Panoramascheiben auf den Park unter ihr, in dem die Bäume, von Künstlerhand geometrisch wie auf einem Schachbrett angelegt, das Wachsen verweigerten. In einer Designervase auf ihrem Schreibtisch, in der die Blumen haltlos wie Mikadostäbe auseinanderfielen, waren wie jeden Montag frische Rosen drapiert. Auf ihrem Schreibtisch lag die Wochenendausgabe der Tageszeitung »Volkskrant«. Beim Vorbeigehen fiel ihr Blick immer wieder auf den einen von ihr rot unterstrichenen Satz. Sie hatte ihn in dem Wunsch markiert, ihn dadurch besser begreifen zu können. Er stand in einem Artikel über ihre vor wenigen Wochen begonnene Tätigkeit als Direktorin des Niederländischen Architekturinstituts in Rotterdam. Der Satz lautete: »Die Mitarbeiter wollen ihre deutsche Direktorin nicht.« Damit war sie gemeint.
Dass der älteste Mitarbeiter, dessen Aufgabe es war, die Teeküche in Ordnung zu halten, bei kleineren Anlässen belegte Brötchen zu servieren und für ihr leibliches Wohl zu sorgen, im breitbeinigen Wiegeschritt seiner Seemannsjahre in ihr Büro gekommen war, hatte sie nicht bemerkt. Sie nahm ihn erst wahr, als er ihr Tee einschenkte und ihr verlegen mit den Worten »Den hat meine Mutter getragen. Er hilft nicht nur gegen Kälte« einen schwarzen, kunstvoll bestickten Wollschal in die Hand drückte.
Vielleicht war es diese Geste, die sie davon abhielt, die Koffer zu packen und einfach abzuhauen, wie sie es bei ihren Männern immer getan hatte. Vielleicht war es aber auch so, dass sie eine berufliche Niederlage einfach nicht akzeptieren wollte. Sie wusste nicht einmal, wie man damit umging. Ihre Tränen konnte sie zurückhalten, bis sie wieder allein war. Das Weinen tat ihr gut. Schließlich wischte sie sich die Tränen ab, zog die schwarzen, verschmierten Lidstriche nach, legte Rouge auf und sagte halblaut zu sich selbst: »So schnell gebe ich mich nicht geschlagen.«
Als sie mehr als ein Jahr zuvor einen Anruf aus den Niederlanden bekommen hatte, ob sie an dem Direktorenposten des dortigen Architekturmuseums interessiert sei und zu einem Vorstellungsgespräch kommen wolle, hatte sie zunächst abgesagt. Zusammen mit ihrem vierten Mann, der inzwischen auch beruflich ihr Partner geworden war, hatte sie gerade erst eine zweite Architekturgalerie in Berlin eröffnet. Erst nach einem weiteren Anruf konnte sie nicht widerstehen und reiste zu einem Gespräch nach Rotterdam. Anderthalb Jahre hatte man dort unter mehr als hundert Bewerbern erfolglos nach einem geeigneten Kandidaten gesucht. Auch sie würde nicht die Richtige sein. Eine Deutsche auf dem Direktorenposten eines nationalen Museums der Niederlande, zudem ohne einschlägige Erfahrung mit einem so großen Apparat, hatte keine Chance. Aber sie liebte Herausforderungen, noch immer. Als das Auswahlgremium sie fragte, ob sie in Personalführung geschult sei,
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