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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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weihnachtlichen Darbietung zu übertreffen. Für den Heiligen Abend habe ich eine Ballettaufführung vorbereitet. Meine Großmutter lässt mir eigens dafür von ihrer Schneiderin mein erstes und einziges Ballettkleid anfertigen. Das Oberteil ist aus weißem Satin, ärmellos und hochgeschlossen, das kurze Röckchen besteht aus sechzehn übereinander liegenden Tüllbahnen. Auch die Ballettschuhe sind aus Satin. Als sich die Schiebetür zum Weihnachtszimmer am Ostbahnhof öffnet, in dem die Familie bereits ihre Plätze eingenommen hat, und ich zu den Klängen der »Puppenfee«, einem pantomimischen Einakter, auf Zehenspitzen hereinschwebe wie ein leibhaftiger Engel, ist das einer der aufregendsten und erhabensten Augenblicke meiner Kindheit. Jahre später erzählt mir Großmutter Brückner, dass ihr Mann noch kurz vor seinem Tod von mir gesprochen habe. Er will die kleine Tänzerin noch einmal sehen.
    Ist der erste Teil der weihnachtlichen Darbietungen beendet, versammeln sich alle Anwesenden um den Flügel, denn nun werden Weihnachtslieder gesungen, die schönen alten von der »Stillen Nacht« und dem »Tannenbaum« mit den grünen Blättern, und, als Annemi auch noch zu komponieren beginnt, ihre Lieder von der »Weihnachtsfreude« und vom »Gottesreich«. Tagelang üben wir die komplizierten Tonfolgen ihrer Kompositionen, sind ihnen aber am Ende musikalisch nicht gewachsen. Und noch immer sind die Päckchen in unerreichbarer Ferne, denn meine Pflegemutter liest wie jedes Jahr die Weihnachtsgeschichte aus einer in Schweinsleder gebundenen Bibel vor, die aufgeschlagen, aber bis dahin unbeachtet auf einem Tischchen bereitliegt.
    Das Klingen der Sektgläser, mit denen die ganze Familie schließlich auf den Heiligen Abend anstößt, ist für uns der Startschuss für den Run auf die Geschenke. Der Ausklang jedes Heiligen Abends vollzieht sich gegen Mitternacht musikalisch, wenn auf Drängen der Familie Annemi, nun sichtlich entspannt nach dem gelungenen Fest, vierhändig mit ihrer Tochter Evi die »Petersburger Schlittenfahrt« von Richard Eilenberg auf dem Klavier spielt. Jedes Jahr werden die Schlitten schneller, bis der vierhändige Geschwindigkeitsrekord des Vorjahres gebrochen ist. Die Weihnachtsabende sind alles in allem festliche, harmonische Stunden für die ganze Familie. Es sind Höhepunkte des häuslichen Lebens, die die Familienmitglieder zumindest kurzfristig vereinen.
    Das erste nicht eindeutig zu bestimmende Unbehagen, Auflehnung ist es damals noch nicht, beschleicht mich, als der Heilige Abend aus Termingründen auf den frühen Nachmittag vorverlegt wird. Während der Berufsverkehr tobt, einige noch ihre letzten Weihnachtseinkäufe erledigen und andere den Braten in die Röhre schieben, kommt bei uns hinter lichtundurchlässigen, zugezogenen Brokatvorhängen das Christkind, das ein paar Stunden später noch einmal in den inzwischen gegründeten Kleinfamilien der Kinder seinen Dienst antreten muss.
    Wieder wird die goldene Glocke, die die Familie wie seit Jahrzehnten schon ins Weihnachtszimmer ruft, geläutet, und Annemi steht an der Schiebetür wie der in die Jahre gekommene Erzengel Gabriel am Himmelstor. Sie ist erschöpft von den Vorbereitungen der vorangegangenen Wochen, und das dezent aufgetragene Rouge kann weder die Müdigkeit noch die scharfen Linien um den Mund überdecken. Wie am Ostbahnhof stehen auch im Haus in der Kleebergstraße und später in Kirchborn die Sessel für die Gäste bereit, nur liegt jetzt auf jedem ein gedrucktes Programmheft, damit man den Darbietungen besser folgen kann. Die Enkelkinder, die alle ein Weihnachtsgedicht ihrer Großmutter einstudiert haben, sagen es mit den von Annemi beschriebenen »leuchtenden Augen« auf so wie wir damals, und so wie wir stürzen sie sich danach auf die Geschenke. Während drinnen bereits die Kerzen gelöscht werden, ist es draußen noch nicht einmal dunkel.
    In späteren Jahren, als es immer schwieriger wird, einen für alle passenden Termin für das gemeinsame Weihnachtsfest zu finden, verlegt meine Pflegemutter den Heiligen Abend kurzerhand einige Tage vor, allerdings mit der Maßgabe, dass ihre Weihnachtsfeier, wenn auch nicht die einzige, so doch die eigentliche bleiben soll. Annemi tut es für ihren Mann, ihre Kinder und ihre Enkel, und ihre Kinder tun es für sie. Der doppelte Heilige Abend ist zumindest für die Enkel erklärungsbedürftig. Die Einzige, die dieses inzwischen erstarrte Familienritual hätte beenden können, ist Annemi.

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