Wie ein Haus aus Karten
Träume ihre Zeit haben und die Liebe auch.
Wenige Jahre später lädt meine Pflegemutter Ilie Popescu noch einmal nach Deutschland ein, und wieder kommt er. Sie tut es für ihn. Er tut es für sie. Am Ende dieses Aufenthalts ist ihr treuer Freund wieder neu eingekleidet. Er verfügt zudem über einen neuen Rasierapparat, eine neue Armbanduhr und seidene Krawatten, Kostbarkeiten, die ihn in der Bundesrepublik in den Augen meiner Pflegemutter zu einem akzeptablen Begleiter machen. Zurück in Rumänien, sind es für Ilie Popescu Wertgegenstände, die er verkauft, um zu überleben.
Wir stehen in Frankfurt am Flughafen, um Ilie nach einem zweiwöchigen Aufenthalt Lebewohl zu sagen, meine Pflegemutter und ich, an die anderen, die möglicherweise noch dabei gewesen sind, kann ich mich nicht erinnern. Als Ilie Popescu zur Passkontrolle geht, wird sein Gesicht aschfahl. Er kann seine Aktentasche mit seinen Papieren nicht finden. Seine fassungslose Reaktion macht unmittelbar deutlich, was in ihm vorgeht. Wenn er nicht rechtzeitig einreisen kann, bedeutet das zur damaligen Zeit seine sofortige Verhaftung, sobald er wieder rumänischen Boden betritt. Sein Entsetzen steckt uns an. Wir laufen suchend durch die Abfertigungshalle. Ich renne schließlich zum Check-in-Schalter zurück. Da steht sie, Ilies Aktentasche, achtlos in der Ecke, verbeult, das Leder abgewetzt, der Griff kaputt. Sie ist kein Objekt der Begierde.
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieses unansehnliche Accessoire dem qualitätssicheren Blick meiner Pflegemutter entgangen ist. Ilie aber hat es gerettet. Wir stehen da und winken, und ich fühle, und Annemi fühlt es wohl auch, dass wir Ilie Popescu nicht wiedersehen werden. Es ist sein letzter Besuch in Deutschland. An der Enttäuschung, an der er bis zum Ende seines Lebens schwer trägt, hat er seiner großen Liebe keine Schuld gegeben.
Zu Ilies Ehren lädt Annemi noch kurz vor seiner Abreise die erweiterte Familie und Freunde ein, doch dieser Abend hat wie alle Feste jener Zeit nichts mehr von der Ausgelassenheit der frühen 50er Jahre. Annemi singt auch nicht mehr für ihre Gäste, von denen vielleicht keiner weiß, was für eine schöne Altstimme sie hat. Sie kommen inzwischen aus der gehobenen Frankfurter Gesellschaft und der bundesdeutschen Geschäftswelt, in der sich meine Pflegeeltern souverän bewegen. Entsprechend repräsentativ und konventionell fallen deren Einladungen aus.
Das gilt auch für die Nachmittagskränzchen, die Annemi im Beisein ihrer Mutter regelmäßig abhält. Bei diesen Gelegenheiten laufen die gute Seele des Hauses, Klärchen, und die Köchin Frau Kolb zu Höchstform auf. Die Tafel ist stilvoll gedeckt, die Kreuzstichtischdecke meiner Großmutter Brückner hat die Farbe des Meissner Porzellans, und die Blumendekoration ist auf beides abgestimmt. Die silbernen Platzteller mit den eingravierten Reiterfolgen der Familie, vor allem Neckos Siegen, hat Klärchen schon für die Schildkrötensuppe bereitgestellt. Die wird in eigens dafür bestimmten zierlichen Tässchen mit Deckel, die Kostbarkeit des Angebotenen unterstreichend, als krönender Abschluss solcher Nachmittage serviert.
Zu den Genüssen dieser Nachmittage gehören auch fünfstöckige Pumpernickel-Kanapees und der Erdbeerkuchen mit Mandelsplittern, dessen Mürbeteigboden dünn ist wie ein Blatt Papier. An Geburtstagen, an denen es in der vielköpfigen Familie keinen Mangel hat, schlägt für Frau Kolb die Stunde des Frankfurter Kranzes. Diese Torte aus Biskuitteig mit Schichten aus Buttercreme und Marmelade, die ringsum mit einem Gemisch aus Mandelkrokant und Buttercreme bestrichen wird, spornt die sonst eher behäbige Frau zu Höchstleistungen an. Die Kunst liegt in der Zahl der Buttercremeschichten. Bei jedem Geburtstag übertrifft sie sich selbst. Ihr einsamer Rekord liegt bei zwölf Lagen. Das ist am fünfzehnten Geburtstag meines Stiefbruders Johannes.
Ein weiterer Gradmesser von Frau Kolbs Kochkunst ist der »Karpfen blau«, mit dem sie an jedem Weihnachtsfest ihre Könnerschaft erneut unter Beweis stellt. Das, worauf es ankommt, ist die Zusammensetzung des Suds aus Kräutern und Gewürzen. Auf dem Höhepunkt des weihnachtlichen Festessens, wenn der Karpfen aufgetragen ist und Annemi gekostet hat, wird die Köchin, die aus diesem Anlass bereits eine frische weiße Schürze umgebunden hat, ins Speisezimmer gerufen und mit dem ihr zustehenden Lob bedacht. Diese Anerkennung im Beisein der ganzen Familie, vor allem
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