Wie ein Haus aus Karten
erreicht. Seit einem Dreivierteljahr arbeitete sie beim Axel-Springer-Inland-Dienst, ASD, einer hauseigenen Agentur, die alle Springer-Blätter mit Nachrichten versorgte. Dass sie bereits beim ersten Anlauf eine Festanstellung als Redakteurin bekam, lag wohl nicht nur an ihrem guten Zeugnis von der »Frankfurter Neuen Presse«, wo sie als Volontärin gearbeitet hatte, sondern eher an der vom Springer-Imperium geschürten politischen Polarisierung, die eine Redakteursstellung in diesem Verlag nicht für jeden Journalisten verlockend erscheinen ließ.
Als sie ihrem damaligen zweiten Mann voller Stolz von der Anstellung bei Springer berichtete, verstand er sie nicht. Er hielt ihr vor, dass sie mit ihrer unpolitischen Höhere-Tochter-Mentalität gar nicht begreifen würde, worum es eigentlich ging. Axel Springer war Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Berlin noch immer der Klassenfeind Nummer eins. Alle Studenten, auch ihr Mann, hatten gegen ihn und sein Imperium demonstriert.
»Ich kann mein Leben doch nicht auf euren Erfahrungen aufbauen«, hatte sie ihm und später auch seinen Freunden erklärt. Ein bisschen zu laut vielleicht, um überzeugter und überzeugender zu wirken, als sie es tatsächlich war. »Ich muss meine eigenen Erfahrungen machen«, beharrte sie. Sie machte ihre eigenen Erfahrungen schneller, als es ihr lieb war, und das Treffen im Journalistenclub war eine davon.
Es dämmerte schon, als sie, immer noch allein, ihren zweiten Kaffee bestellte. Sie blickte aus dem obersten Stock des Springer-Hochhauses an der Kochstraße über die Mauer hinweg nach Ost-Berlin. Für die Redakteure des Verlags war diese Mauer, die Deutschland physisch und geistig trennte, schon lange zum Brett vor dem Kopf geworden.
Der Chefredakteur näherte sich ihr schließlich mit dem Stechschritt des ehemaligen Generals und, davon war sie überzeugt, mit strategisch kalkulierter Verspätung. »Wir müssen miteinander reden«, sagte ihr Chef, aber dann sprach nur er. Was sie getan hatte, nannte er eine Befehlsverweigerung. Er fühlte sich offenbar noch immer an der Front.
Begonnen hatte es damit, dass die Redakteure des Axel-Springer-Inland-Dienstes eines Morgens auf ihrem Schreibtisch Stapel von »Spiegel«-Exemplaren vorfanden, die den Arbeitsplatz wie eine Armee umzingelten. Die Aufgabe war präzis gestellt. Die Redakteure hatten die »Spiegel«-Ausgaben auf negative Zitate zu Willy Brandt und dessen Politik zu durchkämmen. Der Chefredakteur benötigte das Material am folgenden Tag für eine Kampagne aller Springer-Zeitungen gegen Brandt. Als sich die junge Frau weigerte und meinte, dies sei Aufgabe des Springer-Archivs, legte man ihr nahe, nach Hause zu gehen, obwohl der Arbeitstag gerade erst begonnen hatte, zeigte aber ein gewisses Verständnis, schließlich sei sie eine Frau und darum nicht für eine systematische Recherche geeignet.
Bei dem Fall aber, der schließlich der Auslöser für die Aussprache war, lag die Situation anders. Diesmal hatte der Chefredakteur seine Mitarbeiter auf dem Höhepunkt der Springer-Kampagne gegen die antiautoritären Kinderläden in Berlin aufgefordert, Artikel zu verfassen, die diese Haltung untermauern sollten. Im Zentrum seiner Kritik stand ein Kinderladen-Modellversuch der Freien Universität, der Keimzelle der 68er-Bewegung. Die Marschroute war vorgegeben. Die Redakteure sollten »Volkes Stimme« zusammentragen: »Sprecht mit dem Taxifahrer an der Ecke, der Zeitungsfrau im Kiosk, fragt sie, ob sie auch der Ansicht sind, dass die anti-autoritären Kinderläden eine Gefahr für die öffentliche Moral darstellen und darum geschlossen werden müssen!«
»Ich brauche Sie nicht darüber aufzuklären«, fuhr er fort, als er sich im Ledersessel ihr gegenüber niedergelassen und einen Tee mit Zitrone bestellt hatte, »dass Sie als Redakteurin meiner Abteilung verpflichtet sind, meinen Anordnungen Folge zu leisten.« Ihren ruhig vorgebrachten Einlenkungsversuch, der in dieser Gelassenheit nicht ihrer inneren Verfassung entsprach, ihre Kollegen würden ja schon Taxifahrer, Zeitungsfrauen und Müllmänner befragen, sie könne doch ein Interview mit dem für das Projekt zuständigen Professor führen, lehnte er schroff ab. Danach schwiegen beide.
Langsam glitt der wässrige Blick des Chefredakteurs an ihr hinunter und blieb an der Spitze ihrer schwarzen Pumps hängen, während er sich offensichtlich eine neue Strategie zurechtlegte. »Der Rock steht Ihnen gut bei Ihren langen
Weitere Kostenlose Bücher