Wie ein Haus aus Karten
weiteren Anlauf das Fahrzeug mit den nach Annahme der Polizei bereits toten Insassen von der Seite erfasst und es den hinter der Brücke befindlichen Abhang hinunterschiebt. Die Polizei nimmt meinem Cousin zufolge an, dass der Lenker des Lastwagens, der anschließend Fahrerflucht begeht, auf diese Weise Zeit bis zur Entdeckung des Unfalls gewinnen will. Die olivgrünen Lackspuren am Unfallauto weisen eindeutig darauf hin, dass es sich bei dem Fluchtauto um ein Militärfahrzeug der Alliierten gehandelt haben muss. Nach der Aufnahme des Unfalls durch die örtliche Polizei wird die weitere Untersuchung von der Militärpolizei übernommen. Schon wenige Wochen danach wird die Unfallakte »Lang gegen unbekannt« geschlossen. Der Fall ist eingestellt.
Wann der Unfall entdeckt wird, weiß mein Cousin nicht, er ist sich jedoch sicher, dass die Insassen erst am nächsten Morgen um 7.30 Uhr identifiziert werden können. Die Obduktion in der Gerichtsmedizin ergibt, dass sowohl meine Mutter, die im dritten oder vierten Monat schwanger ist, wie auch mein Vater und mein Bruder beim Aufprall des Lastwagens sofort durch Genickbruch getötet worden sind.
Was bedeutet »sofort«? Es braucht Bruchteile von Sekunden, um ein ganzes Leben zu durchlaufen. Ich kann mich nicht von dem Gedanken befreien, was meine Eltern und mein Bruder in diesem letzten Augenblick ihres Lebens empfunden haben mögen.
Auch Helmut erwähnt die Aktentasche mit dem Notizbuch, die mein Vater immer bei sich getragen hat und die seines Wissens nicht im Unfallauto gefunden wird. Die Liste der von der Polizei sichergestellten Gegenstände kennt er nicht und weiß darum auch nicht, dass die Tasche darauf vermerkt ist.
Noch mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem tragischen Unfall fällt es Helmut, der seiner Meinung nach der Einzige gewesen ist, der meine Eltern und meinen Bruder im Sarg gesehen hat, schwer, darüber zu sprechen. Es wird ihm erlaubt, weil er nicht nur ein Verwandter, sondern auch Arzt ist. Sie hätten viele Wunden gehabt, sagt er mit so leiser, zitternder Stimme, dass ich Mühe habe, ihn zu verstehen, vor allem mein Bruder, der auf dem Rücksitz gesessen hat. Ihre Gesichter aber seien nicht entstellt gewesen. Er trinkt das fünfte Glas Wasser während dieses Gesprächs. Ich weiß, dass es nicht die Wahrheit ist, sage aber nichts. Er möchte mich schonen, auch noch nach so langer Zeit. Vor Jahren hat Helmut mit seiner Schwester Annemie darüber gesprochen. Von ihr weiß ich, dass die Toten durch die Verletzungen sehr entstellt gewesen sind.
Annemie Knabs Bericht:
Helmuts Schwester, Annemie, die nach dem Tod ihres Vaters Emil Knab zusammen mit ihrem Mann die Apotheke übernimmt, erzählt, dass im Unfallauto keine andere Adresse als die der Familie Knab gefunden wird. Emil, der Schwager meines Vaters, fährt, nachdem er durch die Polizei von dem Unfall erfahren hat, sofort von Hofheim zu Walter Neckermann nach Würzburg. Er will meiner Großmutter die Nachricht vom Tod ihrer Tochter, ihres Enkels und ihres Schwiegersohns nicht allein überbringen. Als die beiden Männer am nächsten Morgen vor der Baracke stehen und meine Großmutter die Tür öffnet, muss keiner von ihnen ein Wort sagen. Großmutter Neckermann sieht sie an und sagt: »Die Langs sind tot.« Es ist kein Fragen in ihrer Stimme, es ist Gewissheit.
Josef Neckermanns Bericht:
In den Erinnerungen meines Pflegevaters werden dem Unfall, der auch sein Leben entscheidend verändern wird, acht Zeilen gewidmet. Er schreibt: »Am 18. Januar 1948 erwarteten wir in Gräfelfing den Besuch meiner Schwester Mady mit Mann und ihrem siebzehnjährigen Sohn Hans (›Mockel‹). Sie kamen nie an. Bei Zusmarshausen in der Nähe von Augsburg wurden sie auf der Autobahn Opfer eines Verkehrsunfalls, der nie richtig aufgeklärt werden konnte. Auf einer Wiese wurde der völlig zerstörte Wagen mit den drei Toten gefunden. Spuren von Zwillingsreifen, wie sie amerikanische Armeelastwagen hatten, waren die einzigen Hinweise.«
Nachtrag zum Bericht von Josef Neckermann:
Das von ihm angegebene Datum des tödlichen Unfalls stimmt nicht. Es ist nicht der 18., sondern der 15. Januar 1948.
Annemi Neckermanns Bericht:
Was nicht in Neckos Erinnerungen steht, aber immer wieder von seiner Frau Annemi erzählt wird, ist, dass ihre damals zehnjährige Tochter Evi in der Nacht des Unfalls das erste – und bis ins hohe Alter einzige – Mal in ihrem Leben übersinnliche Fähigkeiten entwickelt. Meine Stiefschwester
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