Wie ein Haus aus Karten
Evi weiß, dass meine Eltern noch in dieser Nacht erwartet werden, und sie freut sich darauf. Es sind nicht nur die vielen Lebensmittel und Süßigkeiten, die bei solchen Besuchen verteilt werden. Evi hat ihre lebensfrohe Tante Mady ins Herz geschlossen. Es ist zwischen ein und zwei Uhr nachts, als Evi schluchzend zu ihrer Mutter läuft und unter Tränen ruft: »Die Langs sind tot, die Langs sind tot!« Niemand nimmt das kleine Mädchen ernst, und jeder versucht, das für ihr Alter besonders zarte und sensible Kind zu beruhigen. Wie sich später herausstellt, ist dies tatsächlich die Todesstunde.
Toni Rommels Bericht:
Vom Unfallhergang weiß Toni Rommel, der Freund beider Familien, nichts. Er hat aber von einem Kranz gehört, der auf dem Unfallauto gelegen haben soll. Er meint, meine Eltern und mein Bruder seien auf dem Weg zu einer Beerdigung nach München gewesen und hätten den Kranz selber mitgenommen.
Uschi Homms Bericht:
Zum Unfallablauf kann auch meine älteste Schwester Uschi nichts Neues beitragen, allerdings hat sie sich als Einzige Jahre später den Unfallort angesehen. Sie kann sich nur noch an Schilderungen erinnern, nach denen die Toten aus dem Auto geschweißt werden müssen. Auch sie erwähnt das Notizbuch unseres Vaters, über das immer wieder gesprochen wird, zu seinen Lebzeiten und besonders nach seinem Tod. Ihrer Kenntnis nach ist es nie gefunden worden. Später hört sie von dem Gerücht, der tödliche Unfall könnte absichtlich herbeigeführt worden sein. Mein Vater hatte viele einflussreiche Feinde. Meine älteste Schwester glaubt sich außerdem zu erinnern, dass die Eltern und ihr Bruder Mockel aufgebahrt worden seien und dass deren Anblick sie nicht erschreckt habe.
Nachtrag zum Bericht von Uschi Homm:
Wegen der schweren äußeren Verletzungen wird von einer Aufbahrung abgesehen.
Ruth Gatzkes Bericht:
In der Schilderung der Sekretärin meines Vaters und Großnichte meiner Großmutter Neckermann decken sich einige Fakten mit den bereits genannten, neue kommen hinzu, andere bleiben vage. Auch sie ist fast achtzig Jahre, als ich sie zusammen mit meinem ältesten Sohn Matthias in einem Frankfurter Vorort besuche. Ruth Gatzke wohnt in einer kleinen Dreizimmerwohnung in einer Reihenhaussiedlung. Als sie die Türe öffnet, bin ich verblüfft, und mein Sohn Matthias ist begeistert. Da kommt uns keine alte Dame entgegen, sondern eine attraktive, noch immer jugendlich wirkende Frau, sehr groß und sehr schlank. Ihre rabenschwarzen und, wie sie uns ungefragt versichert, nicht gefärbten Haare sind zu einem dicken Knoten geschlungen. Ihre Nase wetteifert noch immer mit ihrem Kinn, wer von beiden die Führung übernimmt. Die Lippen, zwischen denen eine Zigarette steckt, sind voll und knallrot geschminkt, nur ihre Ohrringe sind ein klein wenig dezenter als die, die sie bei unserer letzten Begegnung vor Jahrzehnten getragen hat.
Ruth Gatzke erzählt schnell, so schnell, wie ihre Erinnerungen zurückkommen, die nur durch einen hauchdünnen Schleier von ihrer Gegenwart getrennt zu sein scheinen. Es bedarf nur eines leichten Luftzugs, damit er sich hebt, und unser Besuch kommt einem Orkan gleich. Die Farben sind nicht verblasst. Sie erinnert sich, dass schon bei der Beerdigung darüber gesprochen wird, dass die Aktentasche meines Vaters samt seinem Notizbuch nicht am Unfallort gefunden wurde. Niemand kann glauben, dass mein Vater sie nicht auf diese Reise, die ja auch eine Geschäftsreise gewesen ist, mitgenommen haben soll. Vom Schmuck meiner Mutter, den sie zu Hause in einem eleganten kleinen Köfferchen aus Krokodilleder aufbewahrt hat und der bei der Toten gefunden wird, fehlt nichts. Die Schatulle aus Krokodilleder besitze ich noch heute.
Die ehemalige Sekretärin meines Vaters ist die Einzige, die mir berichtet, dass mein Pflegevater Josef Neckermann der Erste ist, der nach der Polizei am Unfallort eintrifft. Er ist ohne seine Frau Annemi gekommen. Die Scheinwerfer brennen noch. Auch sie hat davon gehört, dass auf dem völlig zertrümmerten Dach des Unfallautos ein Kranz gelegen haben soll. Sie vermutet, dass Necko ihn mitgebracht hat. Im Schoß meiner Mutter werden Essensreste gefunden. Die Familie hat gerade ein Picknick gemacht.
Sie erzählt weiter, dass bereits in der Nacht des 15. Januar im Radio gemeldet wird, dass sich auf dem Weg nach Augsburg ein schrecklicher Autounfall mit drei Toten ereignet habe. Die Namen der Insassen sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Ruth glaubt,
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