Wie ein Haus aus Karten
der Schwiegersohn Dr. Hans Lang in der Studentenvereinigung AStA, in der Verbindung Gothia, im Würzburger Stadtrat, in der Bayerischen Volkspartei und als Unternehmer erworben hat. Dass das Gedenken an ihn nur positiv gewesen ist, wage ich zu bezweifeln. Am Tag der Beerdigung aber, als die drei Särge langsam in die harte Erde hinuntergelassen werden, sind alle Anwesenden voller Trauer.
Da jedes Familienmitglied in angemessener Kleidung zur Beerdigung erscheinen möchte, aber nur wenige in dieser Zeit über eine passende Garderobe für die Trauerfeier verfügen, werden Hüte und Anzüge in aller Eile schwarz gefärbt. Wer von seiner Hochzeit noch einen Frack oder einen Zylinder besitzt, der führt ihn bei diesem Anlass wieder aus. Meine Großmutter, wie immer in Schwarz gehüllt, erstarrt in ihrem Schmerz und bietet der Trauergemeinde nicht das gleichermaßen gefürchtete wie im Stillen erhoffte Schauspiel der unter ihrem Kummer zusammenbrechenden Hauptleidtragenden. Über ihre vermeintliche Hartherzigkeit wird noch Monate nach der Beerdigung gesprochen. Jahre später sagt meine Großmutter einmal zu mir: »Mein Schmerz gehört nur mir, meine Freude teile ich mit allen.«
Auch an die Beerdigung habe ich keine Erinnerung. Ich weiß nicht mehr, dass ich an der Hand meiner Großmutter Neckermann vor dem Grab stehe, dass ich ein Sträußchen Blumen in das schwarze Loch werfe, in dem die Särge mit meinen Eltern und meinem Bruder verschwunden sind. Ruth Gatzke, die dicht hinter meiner Großmutter und mir steht und mir von Zeit zu Zeit die Mütze über die Ohren drückt, sieht, wie ich meine Großmutter zu mir herunterziehe und ihr ins Ohr flüstere: »Warum gehen wir nicht nach Hause, Kuchen essen? Mir ist so kalt.« Nur die Schwester meines Vaters, meine Tante Maja, überlässt sich, was zu befürchten, aber nicht zu verhindern war, hemmungslos ihrem Schmerz.
Wie mein Cousin Helmut Knab erzählt, wird auch bei dem anschließenden Leichenschmaus in der Familie über das unauffindbare Notizbuch meines Vaters gesprochen. Necko äußert sich dazu nicht. Wenige Wochen nach der Beerdigung zitiert er Ruth Gatzke zu einer Unterredung in die Baracke nach Oberursel. Den Grund der Besprechung nennt er ihr am Telefon nicht. Als sie, auf ein Gespräch unter vier Augen eingestellt, erscheint, findet sie nicht nur Necko vor, sondern fünf ihr unbekannte Herren in dunklen Anzügen und gestreiften Krawatten. Josef hat ein Notizbuch in der Hand und blättert darin. Sie erkennt es sofort wieder. Es ist das angeblich verschwundene Notizbuch meines Vaters. Josef Neckermann bittet sie, in Anwesenheit der Herren die Kurzschrift zu übersetzen, die mein Vater für seine wichtigsten Notizen selber entwickelt hat, damit niemand sie entziffern kann. Necko ist davon überzeugt, dass Ruth Gatzke lange genug Chefsekretärin bei seinem Schwager gewesen sei, um sich damit auszukennen. Ihren fragenden Blick beantwortet er dahingehend, dass die bereits hinzugezogenen Schriftexperten keinen Erfolg gehabt hätten.
Seine Hoffnung und die der fünf Herren, die sich als Bankiers herausstellen, auf diese Weise die Scheinfirmen meines Vaters ausfindig zu machen, ruht auf ihr. Als Ruth Gatzke Necko erklärt, sie könne ihnen nicht helfen, glaubt er ihr nicht. An ihn und die anderen Herren gewandt fügt sie hinzu, und sie berichtet es noch nach Jahrzehnten voller Stolz: »Meine Herren, ich bin nicht in der Lage, die Kurzschrift meines ehemaligen Chefs zu entziffern. Aber auch wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun.« Sie hat die Wahrheit gesagt. Sie kann die Notizen nicht lesen. Noch im hohen Alter ist sie davon überzeugt, dass ihr Josef ihre Antwort nicht abgenommen hat.
Ich habe als Kind viel gefroren. Noch als erwachsene Frau kommt es vor, dass mir bei dreißig Grad im Schatten von einem Augenblick zum anderen kalt wird und eine Gänsehaut den Rücken herunterläuft. Wenn mein dritter Mann Dietmar mein »Frieregesicht«, wie er es nennt, sieht, weiß er, dass etwas geschehen muss. Dass bereits etwas geschehen ist, habe ich im Laufe der Jahre allmählich begriffen. Das Frieren wird für mich zum ersten und untrüglichen Warnsignal, dass meine Seele in Unordnung geraten ist. Natürlich gibt es praktische Gegenmaßnahmen, die zumindest äußerlich helfen, eine dicke Decke oder ein Pelzmantel. Selbst wenn sie mich schützend umhüllen, die Seele können sie nicht erwärmen. Natalia Ginzburg schreibt in ihrer Autobiographie Familienlexikon einen Satz
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