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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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über ihre Mutter, der mich hat aufhorchen lassen, weil ich die Symptome am eigenen Leib erfahren habe: »Meiner Mutter war es im Unglück immer sehr kalt.«
    In einem Gespräch mit einer Gruppe von Psychologen, die ich Jahrzehnte später für einen Zeitungsartikel interviewe, erzähle ich von meinem unmotivierten Frieren. Sie stellen mir Fragen. Ich berichte von meinen Eltern und meinem Bruder, ihrem frühen Tod, meinen verlorengegangenen Erinnerungen. Sie wollen wissen, zu welcher Jahreszeit meine Eltern und mein Bruder gestorben sind, und schließlich kreisen unsere Gedanken um die Beerdigung an einem der kältesten Tage des Winters 1948.
    In meinem Unterbewusstsein hätten sich, so der Deutungsversuch der Psychologen, Kälte, Schmerz und Trauer zu einer untrennbaren Erfahrung verbunden. Wenn die Traurigkeit kommt, kommt auch die Kälte. Die Deutung hilft mir. Ob sie richtig ist oder nicht, ist für mich nicht entscheidend. Mein »Frieregesicht« bekomme ich seitdem immer seltener, und inzwischen gehört es fast ganz der Vergangenheit an. Eine für mich noch viel schwerer wiegende Erkenntnis, die ich aus dem Gespräch mit den Psychologen mitnehme, ist ihr Erklärungsversuch für den Verlust meiner Erinnerung an die ersten acht Jahre meines Lebens. Es ist der Schock, der dem Tod meiner Eltern und meines Bruders, dem ich mit fünf Jahren hilflos ausgeliefert bin, folgt. Ich kann den Tod in diesem Alter nicht mit dem Verstand begreifen und auch nicht mit dem Herzen annehmen. Das Einzige, was ich registriere, ist, dass sie mich verlassen haben. Was mich rettet, ist das Vergessen.
    Im Nachruf der Gothia auf meinen Vater steht: »Hans Lang konnte die Früchte seiner Arbeit, seines Wirkens nicht ernten. Er konnte sein Leben nicht so vollenden, wie es ihm vorgeschwebt hatte, weil die politische Entscheidung der Mehrheit des deutschen Volkes anders war als die seine. Er wurde auf ein Seitengleis gedrängt, und gerade dort ereilte ihn das Schicksal. Wie hätte er seine Fähigkeiten entfalten können, wenn 1933 die Entwicklung eine andere gewesen wäre. Hans Lang ist, gleich Döhling, ein Märtyrer, so verschieden sie beide waren und so fern ihm selbst der Gedanke eines Martyriums gelegen haben mag.«
    Im Nachhinein erschließt mir dieser Text, auch wenn sich mein Vater selber nie als Märtyrer gesehen hätte und ich ihn auch nicht, eine neue Facette seiner Persönlichkeit. Ich habe bis dahin nie darüber nachgedacht, was es für meinen Vater bedeutet haben mag, seinen Beruf als Jurist und seine wissenschaftliche Laufbahn aufgeben zu müssen. In keinem seiner Briefe hat er sich darüber beklagt. Er nimmt es hin wie einen schweren, unvermeidlichen Schicksalsschlag und fängt mit ungebrochener Kraft wieder von vorn an.

    Meine Eltern hinterlassen uns Schwestern ein Vermächtnis, in dem es nicht um finanzielle Regelungen geht, sondern um die Persönlichkeitsbildung ihrer Kinder. Sie nennen drei Punkte. Sie möchten, dass ihre Kinder den katholischen Glauben nicht aufgeben, der die Basis ihres eigenen Lebens gewesen sei, sie ermutigen sie, sich selber treu zu bleiben, einen eigenen Weg zu gehen und sich nicht von der Meinung anderer abhängig zu machen, auch wenn sie dadurch zu Außenseitern der Gesellschaft werden sollten. Und schließlich wollen sie ihren Kindern die Gewissheit geben, dass sie eine in jungen Jahren geschlossene Ehe befürworten würden. Sie schreiben: »Wir haben gegen alle Widerstände jung geheiratet und es nie bereut.«
    Die geistige Unabhängigkeit gegenüber der Meinung anderer, die Professor Verveyen meinen Eltern bereits in jungen Jahren bescheinigt hat, ist prägend für ihr Leben und sollte es nach ihrem Willen auch für das ihrer Kinder sein. Es verwundert, dass ein Paar, das mitten im Leben steht, ganz auf die Zukunft gerichtet ist und gerade ein fünftes Kind erwartet, beschließt, seinen Kindern ein Vermächtnis zu hinterlassen.
    Auf mich übt dieses Vermächtnis eine tiefe Wirkung aus. Die Gewissheit, dass für meine Eltern der Glaube an sich selbst und die Unabhängigkeit von der Meinung anderer Charaktereigenschaften sind, in denen sie ihre Kinder bestärken möchten, hat mir in Krisenzeiten meines Lebens sehr geholfen. Bedrückt hat mich später nur der Umstand, dass ich ihren Wunsch, den katholischen Glauben beizubehalten, nicht erfüllen kann. Die Enzyklika Humanae Vitae , die den Katholiken Empfängnisverhütung untersagt, ist dazwischengekommen, und sie ist nicht das Einzige, was ich

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