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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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begegnen. Und dann ist es so weit. Ich habe einen Traum. Zu diesem Zeitpunkt bin ich zum dritten Mal verheiratet und mit meinem jüngsten Sohn Lukas und meinem damaligen Mann Dietmar in unserem Haus in Ligurien. Im Traum befinde ich mich auf einer Zypressenallee, die zu einem verfallenen Schloss mit einem gläsernen Tor führt. Von weitem schon sehe ich Licht. Es schimmert durch das Glas. Dahinter steht mein Bruder Mockel. Ich kann ihn nur undeutlich erkennen, aber ich fühle, dass er es ist, und empfinde eine Seligkeit, die es nur im Traum gibt. Mein Bruder will mir etwas sagen. In diesem Moment höre ich es weinen. Mein Sohn Lukas ruft nach mir. Traum und Wirklichkeit gehen nahtlos ineinander über. Ich muss eine Entscheidung treffen, und ich entscheide mich für meinen Sohn. Als ich mit ihm auf dem Arm wieder zum Schloss zurückkehre, ist mein Bruder verschwunden, das Licht hinter dem Glastor erloschen. Es gelingt mir nicht, durch es hindurchzudringen. Ich wache auf, und mein Kissen ist feucht von meinen Tränen. Mein Sohn Lukas schläft. Draußen tobt ein für die Riviera ungewöhnlicher Sturm. Ich setze mich in die Küche an den Esstisch und schreibe meinen Traum auf. Als ich den letzten Satz beendet habe, dämmert es draußen.

Dazwischen 4
    Die Sonne brach durch die Äste des alten Apfelbaums, dessen Zweige sich unter der Last der frühreifen Früchte fast bis zur Erde bogen. Sie saß auf der Terrasse ihres Hauses und wartete, während ihr jüngster Sohn versuchte, den Nussbaum zu erklettern, in dessen Krone sein älterer Bruder für ihn ein Baumhaus eingerichtet hatte. Es war einer jener windstillen Berliner Sommernachmittage, an denen in ihrem Garten, inmitten der von Touristen überschwemmten Stadt, die Zeit stillzustehen schien. In wenigen Tagen würde sie mit ihrer Familie nach Italien fahren. Dennoch war sie voller Unruhe, und wie immer, wenn sie unruhig war, kaute sie an ihren Fingernägeln. Eine Unart, gegen die sie machtlos war.
    Ihre Galeriepartnerin und Freundin wollte auf einen Kaffee bei ihr vorbeikommen, bevor auch sie in den Urlaub fuhr. Sie wussten beide, dass sie miteinander sprechen mussten. Sie hatten es schon zu lange vor sich hergeschoben. Ob sie kommen würde? Ob sie es diesmal schaffen würden, Worte zu finden für das, was zwischen ihnen stand? Die Naivität, mit der die beiden Frauen gemeinsam eine Architekturgalerie ins Leben gerufen hatten, ohne über Vorbilder oder Vorkenntnisse zu verfügen, war vielleicht der einzige Weg gewesen, einen solchen Schritt überhaupt zu wagen. Erst später kamen Kompetenz und Professionalität hinzu. Bereits mit ihrer zweiten Ausstellung wurde die kleine Architekturgalerie mit dem Namen »Aedes« über Nacht in der Fachwelt bekannt.
    Die Berliner Kongresshalle, von dem amerikanischen Architekten Hugh Stubbins 1957 zur Internationalen Bauausstellung »Interbau« errichtet, war dreißig Jahre nach ihrer Fertigstellung eingestürzt. Die beiden Frauen hatten die spontane Idee, renommierte Architekten aus dem In- und Ausland um Entwürfe zu dem eingestürzten Symbol deutsch-amerikanischer Freundschaft zu bitten. Die Reaktion war überwältigend. Das Ergebnis, das sie in der Ausstellung »In memoriam Kongresshalle Berlin« präsentierten – Zeichnungen, Skizzen, Modelle, Collagen, phantasievoll, ironisch, kritisch, oft auch von hoher künstlerischer Qualität –, wurde in Medien und Öffentlichkeit lebhaft diskutiert.
    Eine Debatte über Architektur, nicht nur unter Fachleuten geführt, sondern auch vom breiten Publikum, war das, was sie wollten. Die Tatsache, dass beide keine Architektinnen waren, war diesem Anliegen nicht abträglich, im Gegenteil: Sie half ihnen sogar. Jedes Ausstellungsthema, das sie sich in den Kopf gesetzt hatten, mussten sie sich zunächst selber erarbeiten. Sie stellten kritische Fragen, und sie suchten nach Antworten. Was sie verstanden, das konnten sie auch weitergeben.
    Abgesehen von der schwierigen finanziellen Situation, die zur Folge hatte, dass die Frauen jede mit dem Gehalt aus ihrer Festanstellung die Galerie finanzierten, lief alles wie von selbst: das positive Presseecho, die sich schneeballartig ausbreitenden weltweiten Kontakte und die internationale Anerkennung. Bei ihren gemeinsamen Auftritten gelang es ihnen mühelos, durch ihre ansteckende Begeisterungsfähigkeit und ihr Engagement die interessantesten Architekten der Welt für Präsentationen in ihrer kleinen Galerie zu gewinnen. Sogar die Türen der großen

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