Wie ein Haus aus Karten
nicht akzeptieren kann.
Ich habe früh begonnen, auch für meine beiden leiblichen Söhne Matthias und Lukas ein Vermächtnis aufzusetzen. Inzwischen liegt eine für mich nicht mehr überschaubare Vielzahl solcher Schriftstücke vor, die ich meist vor weiten Reisen geschrieben und nie ordentlich abgelegt habe. Meine Söhne werden sich einmal selber in diesem Wirrwarr zurechtfinden müssen.
Die Entscheidung, dass die drei Vollwaisen vom älteren Bruder meiner Mutter und seiner Frau Annemi übernommen werden, beschreibt mein Pflegevater Josef Neckermann in seinen Erinnerungen so: »Im Familienrat wurde beschlossen, dass wir unserer Mutter, die mittlerweile siebzig Jahre alt war, die Fürsorge und Verantwortung für die drei Waisen nicht allein überlassen konnten. Maria Barbara (›Uschi‹) war fünfzehn, July neun und Eva-Kristine (›Tini‹) gerade fünf Jahre alt.« Necko übernimmt mit den drei verwaisten Mädchen auch die verwaisten Firmen meines Vaters und das neue Zuhause der Familie Lang in Oberursel.
An diesem Familienrat nehmen außer Annemi und Necko und meiner Großmutter Jula noch Emil und Greta Knab und deren Sohn Helmut teil. Der von meinem Vater handschriftlich aufgesetzte letzte Wille meiner Eltern, dem zufolge die Kinder im Falle eines gemeinsamen Tode in der Familie seiner Schwester Greta in Hofheim aufwachsen sollen, wird bei dieser Zusammenkunft nicht erwähnt. Wer diesen letzten Willen meines Vaters, den ich Jahrzehnte später in alten Aktenordnern entdecke, damals gekannt hat, ist nicht mehr zu ermitteln. Dem Willen Neckos entspricht es jedenfalls nicht. Wie Helmut noch kurz vor seinem Tod erzählt, habe mein Pflegevater den Familienrat mit den Worten eröffnet: »Die Kinder kommen zu uns.«
Für die drei Lang-Schwestern wird vom Vormundschaftsgericht Homburg ein unabhängiger Vormund bestellt. Zwei weitere folgen, die wie der erste zwar altväterlich und vertrauenswürdig wirken, es aber nicht sind. Nachdem den drei Herren unrechtmäßige Bereicherung in erheblichem Umfang nachgewiesen wird, wird mein Pflegevater gebeten, die Vormundschaft zu übernehmen. Er lehnt ab, schlägt stattdessen aber vor, seinen neuen Firmenjustitiar, Dr. Wolfgang Voigt, einzusetzen. So geschieht es.
*
Als meine Eltern und mein Bruder sterben, bin ich fünf Jahre alt. Hinter dem Schleier des Vergessens und Verdrängens, der sich über meine ersten Lebensjahre legt, verschwinden auch all die guten und liebevollen Begebenheiten aus dieser Zeit, die sich sicher zugetragen haben: eine zärtliche Umarmung, ein Lachen im Treppenhaus, mein erster Schultag mit der Schultüte im Arm, Geburtstagsfeste mit dem obligatorischen Kerzenauspusten, Weihnachtsfeiern mit Gänsebraten, mein Bruder, der mit mir spielt. Erinnerungsfetzen tauchen vereinzelt erst aus meinem siebten und achten Lebensjahr auf, die, vergleichbar den zartgliedrigen Samensternen einer Pusteblume, durch die Luft fliegen und sich in meinem Bewusstsein niederlassen. Ich habe sie als Geschenke angenommen und kann nicht genug davon bekommen. Gabriel García Márquez, einer, den ein nie versiegender Strom von Erinnerungen bis ins hohe Alter begleitet, schreibt in Leben, um davon zu erzählen: »Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern, um davon zu erzählen.«
Ich muss mich erinnern, um zu leben.
Von klein auf habe ich gefühlt, dass meinen Bruder Mockel und mich eine besondere Beziehung verbindet. Jahrzehnte später finde ich erste Belege für etwas, woran ich nie gezweifelt habe, obwohl ich es nicht in meiner Erinnerung verorten kann. Ahnen braucht keine Erinnerung.
Es beginnt mit einem Brief von mir an meinen Bruder. Da steht unter dem Datum vom 2. März 1947 in riesigen, krakeligen Buchstaben: »Die Tini ist krank. Ich bin krank. Die Mami ist heute das erste Mal aufgestanden.« Da bin ich noch keine fünf Jahre alt. Es folgt eine Postkarte meines Bruders an mich. Sie ist vom 1. April 1947. Auf der Vorderseite ist ein Terrier abgebildet, und auf der Rückseite steht: »Wie ich gehört habe, bist Du ja so nett und lieb. In den Ferien werde ich gerne viel mit Dir spielen.« In einem Brief aus dieser Zeit schreibt meine Mutter ihrem Ältesten ins Internat: »Du warst gerade im Auto um die Ecke, da steht Tini im Gang und weint schrecklich, weil ihr lieber Mockel weg ist. Wir konnten sie kaum beruhigen.«
Im Märchen hat der Held drei Wünsche frei. Ich habe immer nur einen Wunsch: Einmal nur möchte ich meinem Bruder Mockel
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