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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Putiputs Abenteuern, der Geschichte einer Ente, die auf Reisen geht, bis zu Uns vertrieb der Vulkan, der Erzählung eines mexikanischen Waisenjungen, die mir meine Großmutter vor dem Schlafengehen vorliest. Jede Woche darf ich mir einen Prinz-Eisenherz-Comic und ein Mickymaus-Heft kaufen, diese Lektüre allerdings nicht mitnehmen, wenn wir meine Pflegeeltern in Frankfurt besuchen. Wir haben beide ein schlechtes Gewissen. Meine Großmutter hat sich, im Gegensatz zu meiner Pflegemutter Annemi, nie zu Erziehungsprinzipien geäußert. Ich glaube, sie hat gar keine. Ihre Erziehung, wenn man es überhaupt so nennen mag, kommt direkt aus ihrem klugen Herzen und ihrem liebevollen Verstand.
    In dieser Zeit erfüllt sich mein größter Wunsch. Ich erhalte Ballettunterricht. Noch heute besitze ich ein Schulheft, in dem ich mit Strichen, Kreisen, Pfeilen und Anmerkungen wie »Arabesque«, »Battement« und »Rond de jambe par terre« Choreographien festgehalten habe. Die erste Eintragung stammt von Ostern 1954. In Schönschrift steht da, wie mich meine Großmutter Neckermann zur ersten Unterrichtsstunde begleitet. Die Stunde kostet eine Mark und fünfzig Pfennig. Ich zeichne in mein Heft Ballettschuhe und schreibe darunter: »Mein Glück«. Dann folgen Themen für Tänze, die ich mir ausgedacht habe.
    Tanz 1: »Ein Vogel ist immer eingesperrt, doch auf einmal steht die Tür des Käfigs offen, und der Vogel fliegt hinaus. Zuerst kann er schlecht fliegen, aber dann gelingt es, und der Vogel fliegt den nahen Bergen entgegen.«
    Tanz 2: »Eine Elfe kommt aus ihrer Höhle und schaut sich um, ob auch nirgends ein Feind ist. Dann tanzt sie ganz leicht und auf Zehenspitzen, doch auf einmal sieht sie einen Feind und geht zurück in ihr Versteck.«
    Tanz 3: »Aus einer Pyramide kommt ein Geist und lockt dich zu ihm. Du willst nicht und tanzt einen verzweifelten Tanz. Doch du kannst nicht widerstehen und folgst dem bösen Geist.«
    Tanz 4: »Ein kleines Kind hat keinen Vater und keine Mutter und irrt im Schnee herum. Doch niemand hilft ihm, und dann schläft es ein und wacht nie mehr auf. Leise fallen Flocken und decken das Kind zu.«
    Damals bin ich zwölf Jahre alt. Als ich meiner Großmutter voller Stolz das umfunktionierte Schulheft mit meinen Tanzideen zeige, ist sie nicht von Rührung überwältigt, sondern sieht die Sache eher pragmatisch. »Wenn du das Kind im Schnee gewesen wärst«, meint sie und drückt mich an sich, »du wärst bestimmt aufgesprungen und davongetanzt.«
    Begonnen hat alles mit braunen Filzpantoffeln mit harter Kappe, die eine längere Haltbarkeit gewährleisten sollen. Ich will die Kappen testen und stelle mich auf die Zehenspitzen. Und dann packt es mich, ich beginne zu tanzen. Meiner Großmutter sage ich, ich hätte eine Überraschung für sie. Ich schiebe die Sessel im Wohnzimmer zur Seite, ziehe die Vorhänge zu, platziere die Stehlampe wie einen Scheinwerfer, lege die Schellackplatte mit der »Nussknacker Suite« von Tschaikowsky auf und öffne die Tür. Meine Großmutter hat erst Angst, ich könnte mich verletzen, als sie mich auf Zehenspitzen in den Pantoffeln tanzen sieht, dann freut sie sich mit mir. Nie zuvor in ihrem Leben hat sie sich mit Ballettschulen befasst, aber innerhalb weniger Tage findet sie eine für mich.
    Das zweite entscheidende Ereignis meiner Kindheit kommt auf vier Beinen daher. Ich nenne ihn Mecki, weil der goldbraune Langhaardackel mit seiner spitzen Schnauze meiner Steiff-Knopf-im-Ohr-Igelfamilie, deren Mitglieder sämtlich Mecki heißen, ähnelt. Die Namensfindung für den drei Wochen alten Dackel ist, gemessen an der Reaktion meiner Großmutter, als ich ihn ungefragt mit nach Hause bringe, ein eher zweitrangiges Problem. Ich habe den kleinen Hund in der Tierhandlung gegenüber dem Ursulinenkloster entdeckt und kann nicht widerstehen. Ihn gleich mitzunehmen erweist sich zunächst als schwierig, da ich kein Geld bei mir habe. Als ich der Verkäuferin aber erkläre, meine Großmutter Neckermann würde am nächsten Tag vorbeikommen und bezahlen, gibt es keine Einwände mehr. Jeder in Würzburg kennt den Namen Neckermann.
    Meine Eigenmächtigkeit bezüglich des Familienzuwachses bringt die häusliche Harmonie vorübergehend aus dem Gleichgewicht. Die Machtverhältnisse ordnen sich neu. Die ehemalige Pfarrersköchin droht mit Kündigung und streicht aus Protest vorübergehend mein Lieblingsgericht »Dampfnudeln mit Butterbrösel und Vanillesoße« vom Speisezettel. Im Gegensatz

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