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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Pension betreibt, seit er dem Autohandel den Rücken gekehrt hat.
    Aus dieser Zeit stammt mein erstes Poesiealbum. Es hat einen roten, wattierten Kunststoffeinband, der im Laufe der Jahre an einigen Stellen brüchig geworden ist und sein Innenleben aus grauem Filz enthüllt. Meine beiden Großmütter haben sich auf den ersten Seiten verewigt. Großmutter Brückner schreibt in ihrer spitzen, kleinen Handschrift: »Willst Du Dir ein hübsches Leben zimmern/Darfst Dich um Fremdes nicht kümmern/Das wenigste darf Dich verdrießen/Musst froh die Gegenwart genießen/Besonders keine Menschen hassen/Und die Zukunft Gott überlassen.« Das ist Großmutter Brückner, und so hat sie gelebt.
    Es hat mich bewegt, als ich das Poesiealbum, das ich längst verloren geglaubt habe, wiederfinde, vor allem wegen der Eintragung meiner Großmutter Neckermann, die ganz sicher eifersüchtig gewesen ist, dass sie nicht die Erste ist, die im Poesiealbum ihrer geliebten Enkelin steht. Sie schreibt: »Willst Du glücklich sein im Leben/trage bei zu andrer Glück/Nur die Freude, die wir geben/Kehrt ins eigne Herz zurück.« Auch sie hat so gelebt. Von dem vierblättrigen Kleeblatt, das sie damals unter das Gedicht geklebt hat, ist noch ein Blatt erhalten.
    In einer kleinen, mit Schwarzweißfotos bebilderten Werbebroschüre, die das »Haus Hubertus« den Interessenten schickt, steht zu lesen, dass der Tagessatz acht Mark beträgt, »die Reinigung der Leibwäsche sowie zehn Prozent Trinkgeldablösung nicht eingerechnet«. Das Leben der Jungen und Mädchen im Kindersanatorium wird in freundlichen Farben geschildert: »Nichts fördert ein Kind körperlich und geistig besser als ein zeitweiliger, nicht zu kurz bemessener Aufenthalt in Bergluft, Höhensonne, Wiese und Wald, wenn es sich nach Herzenslust mit fröhlichen, gleichaltrigen Gespielen unter treuer, erfahrener Aufsicht tummeln kann.« Ich habe nicht die angekündigte Herzenslust, ich habe Herzschmerz. Hinzu kommt eine weitere Sorge. Ich mache noch ins Bett, obwohl ich schon zehn Jahre alt bin.
    Es beginnt mit einem Traum, und der ist immer der gleiche. Ich glaube, dass ich auf der Toilette sitze. Als ich den Weg in den Wachzustand zurückfinde, spätestens dann, wenn sich um mich herum eine warme Feuchtigkeit verbreitet, erkenne ich, dass das »kleine Malheur«, wie meine Großmutter es beschwichtigend nennt, »das jedem mal passieren kann«, wieder einmal mir passiert ist. Im Kinderheim aber gibt es keine Großmutter, die das Laken beseitigt und die Schande abwendet. An Weglaufen ist nicht zu denken, Großmutter Brückner hätte mich auf dem schnellsten Weg wieder zurückgebracht. Einen Ausweg habe ich noch, ich muss das feuchte Laken trockenreiben. Immerhin bleiben mir noch ein paar Stunden, bis das Klingelzeichen zum Aufstehen ertönt. Ich ziehe die Bettdecke über den Kopf, damit mich im Schlafsaal niemand sieht, und beginne mit meinem Taschentuch die nasse Stelle zu bearbeiten, viele Stunden lang. Die Panik hält mich wach. Als ich beim ersten Morgengrauen vorsichtig die Decke hebe, ist das Laken trocken, der Fleck verschwunden. Nicht einmal der so gefürchtete gelbliche Rand ist noch zu sehen, und selbst der beißende, süßliche Geruch, der meine Arbeit unter der Decke erheblich erschwert hat, ist verflogen.
    Das ist ein Sieg. Die Niederlage folgt auf dem Fuß. Die Prüfung für das Gymnasium, die ich nach einem halben Jahr ohne regelmäßigen Unterricht ablegen muss, bestehe ich nicht. Ich gehe allein in ein wenig einladendes, düsteres Schulgebäude in Bad Reichenhall, hole mir nach einer missglückten Prüfung allein das negative Resultat ab und laufe allein zum Kinderheim zurück, mit dem einen Bein auf dem Bürgersteig und dem anderen auf der Straße. Durch den Höhenunterschied sieht es von weitem so aus, als humpelte ich. Die Vorstellung gefällt mir. Vielleicht gibt es ja Passanten, die Mitleid mit dem humpelnden Mädchen haben. Und bemitleidenswert fühle ich mich.
    Es ist das Jahr 1952. Ich habe, wenn auch nach mehrfachem Anlauf, den Sprung auf das Gymnasium des Ursulinenklosters in Würzburg geschafft. Nur zwei Begebenheiten sind mir aus dieser eher eintönigen Schulzeit, die mit drei Fünfen auf dem Zeugnis und einem vorzeitigen Abgang endet, in Erinnerung geblieben. Da sind zum einen die mit Kondensstreifen an den blauen Sommerhimmel geschriebenen Worte »Chruschtschow muss weg«, worauf alle Schülerinnen die Klassenzimmer verlassen, auf den Schulhof laufen und dort

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