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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Beige- und Brauntönen gehalten. Den Hintergrund bildet ein romanisches Kirchenschiff. Pater Aquilin trägt eine Kutte, am Hals schaut ein weißer Stehkragen hervor. Er hat scharfe, intelligente Augen wie die eines Raubvogels, der mit einem Blick seine Umgebung wahrnimmt und einordnet. Sie sind kastanienbraun. Die Lippen sind voll, wohlgeformt und sinnlich. Die große und breite Nase wirkt an der Spitze leicht eingedrückt, doch das mindert die Harmonie seiner Züge nicht. So wie diesen Mann habe ich mir immer Hermann Hesses Narziß vorgestellt.
    Christian Schad schreibt zu diesem Gemälde: »Der Franziskanerpater Aquilin Reichert stammte aus der Würzburger Gegend und war deutscher Pönitentiar am Vatikan. Jeder, der am Vatikan tätig ist, muss neben der Theologie noch ein anderes Wissensgebiet studiert haben. Pater Aquilin war Jurist und in allen Problemen, die durch die Beichte entstanden, für Deutschland die oberste Instanz. Bei meinem Plan, den Papst zu malen, hat er mir viele Wege geebnet. Als es so weit war, dass ich mit dem Porträt beginnen konnte, meinte er, wenn ich nun des Öfteren in den Vatikan käme, würde ich wohl mehr als ein Auge zudrücken müssen, wegen der vielfach recht weltlichen Verhältnisse dort. Er meinte vor allem die Sache mit den Trinkgeldern und die bürokratischen Belange. ›Wenn heute wieder so etwas wie eine Tempelaustreibung stattfinden würde‹, sagte er, ›ich glaube, sie müsste im Vatikan beginnen‹.«
    Der Mann auf dem Gemälde fasziniert mich, und was Schad über ihn schrieb, macht ihn mir sympathisch. Als ich ihm, Jahre, bevor ich diesen Text lese, im Wohnzimmer unseres Gartenhauses gegenübersitze, strahlt er für mich eher etwas Selbstgefälliges aus. Pater Aquilin besucht meine Großmutter immer, wenn er in Deutschland ist. Er kommt aus Dankbarkeit oder aus Pflichtgefühl, ich glaube auch, Bewunderung, vielleicht aus einer Mischung aus alldem. Großmutter Neckermann hat den größten Teil seines Studiums finanziert. Anselm Reichert stammt aus einer strenggläubigen Familie, die in Thüngersheim in der Nähe von Würzburg einen kleinen Bauernhof betreibt. Die Familie sieht es als Auszeichnung des Himmels an, dass einer ihrer Söhne Theologie studieren darf. Dafür bringen sie materielle Opfer, und dafür brauchen sie die Hilfe anderer. Meine Großmutter ist eine der anderen.
    Aquilin, damals noch Anselm, ist das begabteste der Geschwister. Er hat seine Eltern nicht enttäuscht. In Rekordzeit absolviert er sein Theologiestudium und tritt in den Franziskanerorden ein. Nebenbei studiert er Jura und auch dies mit Erfolg. Als er meine Großmutter besucht, ist er bereits Pönitentiar beim Vatikan und bekleidet den Rang eines Kardinals. Als Pater Aquilin Firmpate von Jula Neckermanns erstgeborenem Sohn Josef ist, steht er noch am Beginn seiner bemerkenswerten Kirchenlaufbahn.
    Dass ich bei den Besuchen Pater Aquilins anwesend bin, liegt zum einen daran, dass mich meine Großmutter von nichts ausschließt, und zum anderen an den beengten Wohnverhältnissen. Bei einem gemeinsamen Wohnzimmer und einem gemeinsamen Schlafraum bestehen kaum Ausweichmöglichkeiten. Vor allem aber gibt es nichts, was ich nicht wissen möchte. Was Pater Aquilin erzählt, während er an dem Eierlikör nippt, den meine Großmutter ihrem Gast eingeschenkt hat, bevor sie sich selbst ein Gläschen ihres Lieblingsgetränks gönnt, versetzt mich in eher ungläubiges als gläubiges Staunen.
    Am meisten beeindruckt mich an Pater Aquilin, dass er in seinen eigenen Räumen im Vatikan die Messe lesen darf. Ich möchte ihn bitten, die Messe auch einmal in unserem Wohnzimmer für meine Großmutter zu lesen, da sie wegen ihrer Gehbehinderung schon lange keinen Gottesdienst mehr besucht hat. Meine Großmutter erlaubt es mir nicht.
    Bei einem seiner Besuche erzählt Pater Aquilin, dass er seit fünf Jahren für eine Seligsprechung in der Bibliothek des Vatikans recherchiere und hoffe, die Untersuchungen innerhalb der drei folgenden Jahre abschließen zu können. Pater Aquilin berichtet von dem aufopferungsvollen Leben seiner potentiellen Seligen, von ihren Entsagungen, ihrem Märtyrertod. Vor allem aber spricht er von ihrer Schönheit. Und er beendet seine Schilderung mit der von alters her bekannten, aber für einen Katholiken recht ketzerischen These, dass Schönheit gleichbedeutend mit Tugend sei. »Mens sana in corpore sano. Hässliche Menschen«, erklärt Pater Aquilin, ohne dass ein Zweifel seine klare Stimme

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