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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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zusammen mit den Nonnen die Arme gen Himmel recken, so als könnte der liebe Gott bei der Vertreibung des mächtigen Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der KPdSU behilflich sein. Zum anderen habe ich die verärgerte Reaktion der Oberin beim Anblick meiner Sommergarderobe noch vor Augen. Meine Großmutter hat aus Protest darüber, dass die Mädchen der Klosterschule keine nackten Schultern zeigen dürfen, demonstrativ anstelle der geforderten Ärmel schwarze »Trauerränder« an meine Kleider nähen lassen.
    Die Nonnen des Ursulinenklosters zeigen im Übrigen Verständnis für mich und später sogar für meine schlechten Noten. Vielleicht haben sie das Kind bedauert, das ohne Eltern bei seiner Großmutter aufwachsen muss. In Wirklichkeit verhält sich die Sache ganz anders. Ich bin nicht zu bedauern, ich bin zu beneiden. Ich darf bei meiner Großmutter leben, und ich bin einer neuen Leidenschaft verfallen, dem Kino. Wenn mich meine Großmutter, inzwischen an den Rollstuhl gebunden, auch nur selten in die Kinos der Stadt begleiten kann, so gönnt sie mir doch das Vergnügen, das sie selbst vor dem Fernseher genießt. Ich wiederum danke es ihr, indem ich ihr, wenn ich nach Hause komme, jeden Film in allen Einzelheiten und leuchtenden Farben schildere.
    Jahrzehnte später erzählt mir mein jüngerer Sohn Lukas mit der gleichen Begeisterung die Inhalte der Filme, die er gesehen hat. Und genauso wie ich damals kann er kein Ende finden und stellt mein Kombinationsvermögen auf eine ähnlich harte Probe wie ich das meiner Großmutter. Den Kinobesuchen dieser Jahre verdanke ich damals den größten Teil meiner Bildung. Besonders die Monumentalfilme in der gerade neuentwickelten Cinemascope-Technik nehmen in meiner Erziehung vorübergehend die Stelle der Bücher ein. Jean Simmons und Richard Burton, die in dem Historienfilm »Das Gewand« der Christenverfolgung zum Opfer fallen, sind meine Helden ebenso wie Robert Taylor, der hoch zu Ross als »Ivenhoe der schwarze Ritter« die Tugend der schönen Elizabeth Taylor verteidigt und die Rückkehr von Richard Löwenherz ermöglicht. Auch meine bis heute unverminderte Faszination für Ägypten stammt nicht aus Schulbüchern, sondern aus breitwandigen Hollywoodstreifen wie »Kleopatra«, »Im Tal der Könige« oder »Land der Pharaonen«. Meine Leinwandliebe zum Land am Nil führt Jahrzehnte später dazu, dass ich meine erste gemeinsame Auslandsreise mit meinem ältesten Sohn Matthias nach Ägypten mache.
    Meine häufigen Kinobesuche haben schließlich nicht nur meinen ersten Berufswunsch, Platzanweiserin zu werden, zur Folge, sondern auch die Einsicht, ihn leider wieder aufgeben zu müssen. Da ich offensichtlich den elementaren Leinwandgefühlen nicht gewachsen bin und bei sentimentalen und traurigen Geschichten jedes Mal in Tränen ausbreche, beschließe ich, der Scheinwelt zu entsagen und als Krankenschwester zu Albert Schweitzer nach Lambarene zu gehen.
    Auslöser ist wieder ein Film, diesmal: »Es ist Mitternacht, Dr. Schweitzer«. Im Kinosessel eng an meine Großmutter gedrückt, lasse ich mich in den undurchdringlichen Urwald und die lichte Welt der guten Taten entführen. Um mich auf meine neue Aufgabe vorzubereiten, wünsche ich mir zu Weihnachten 1953 eine Urwaldtrommel, wobei ich auf dem Wunschzettel vermerke: »Bin auch mit einer einfachen zufrieden.«
    Wenn ich benommen aus der Zelluloid-Welt auftauche, muss ich unverzüglich in die Realität zurückkehren, denn auch auf mich lauern Gefahren. Meine Bedrohung erscheint in Gestalt der Nonnen des Ursulinenklosters, die sich vor den fünf Kinos, die es damals in Würzburg gibt, platzieren, um die Sünderinnen abzufangen. Es ist den Schülerinnen der Klosterschule verboten, ins Kino zu gehen. Die Nonnen in ihren schwarzen Kutten zu erkennen ist nicht das Problem, wohl aber, ihnen zu entwischen. Oft verstecke ich mich nach dem Ende der Vorstellung in der Toilette des Kinos und warte, bis die Luft rein ist. Großmutter Neckermann macht sich keine Sorgen. Sie kennt das Verbot und vertraut auf meine Geschicklichkeit. Mein kindlicher Emotionshaushalt wird über viele Jahre von den Leiden und Freuden meiner Leinwandhelden bestimmt.
    In meiner Würzburger Zeit gibt es neben den vielen Filmen auch einige wenige Bücher. Sie sind für mich indes nicht ganz so lebenswichtig wie die bewegten Leinwandbilder. Auch die Auswahl meiner Bücher lässt keine pädagogischen Ambitionen meiner Großmutter erkennen. Das Spektrum reicht von

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