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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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erzittern lässt, »offenbaren nur ihre hässliche Seele.« Meine Großmutter lächelt und schweigt, ich protestiere. Aber mit mir, dem kleinen vorlauten Mädchen will Pater Aquilin auch nicht diskutieren. Ich verzeihe ihm alles, als er Jahre später, nachdem er bereits bei der Eheschließung meiner Pflegeeltern nachgeholfen hat, seine Vertrauensstellung beim Papst, inzwischen ist es Pius XII., zum Wohle meiner Großmutter einsetzt.
    Großmutter Neckermann liegt im Sterben. Akutes Nierenversagen. Die Schmerzen sind so stark, dass sie nicht mehr bei Bewusstsein ist. Unsere ehemalige Pfarrersköchin holt, endlich wieder in ihrem Element, einen Geistlichen vom benachbarten Kloster, damit er meiner Großmutter die »Letzte Ölung« spendet. Ich wehre mich unter Tränen dagegen, weil schon allein dieses Wort Endgültigkeit in sich trägt.
    In diesen Stunden bin ich jedem im Wege und mir selbst auch. Im Schlafzimmer liegt meine sterbenskranke Großmutter, zu der ich nicht mehr hineingelassen werde. Im Wohnzimmer sitzen die Familie und die Ärzte. Schließlich lege ich mich unbemerkt von den Erwachsenen in eine Sofaecke und versuche, den Sinn ihrer Worte aufzuschnappen. Doch dann sinke ich erschöpft in einen unruhigen Schlaf.
    Aus Frankfurt sind meine Pflegeeltern Annemi und Necko angereist. Sie haben einen Spezialisten mitgebracht. Der jüngere Sohn meiner Großmutter, Walter, ist mit seinem Schwager Dr. Köhler gekommen, der ebenfalls Arzt ist. Und da ist noch Dr. Werner, der Hausarzt meiner Großmutter, der, obwohl ihn in dieser Nacht niemand gerufen hat, im Schlafzimmer keinen Augenblick von der Seite meiner Großmutter weicht und ihr in regelmäßigen Abständen fränkisches Weizenbier einflößt. In dieser Nacht, in der ich im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafe, verhandeln die Erwachsenen um ihr Leben.
    Die zwei Kapazitäten, die aufgrund der vorliegenden Befunde davon überzeugt sind, dass es keine Rettung für meine Großmutter gibt, wollen ihre Schmerzen durch eine Erhöhung der Morphium-Dosis lindern und sie damit sanft entschlafen lassen. Der Hausarzt Dr. Werner ist, wenn auch ungefragt, dagegen. Am nächsten Morgen kommt ein Telegramm von Papst Pius XII. mit Genesungswünschen und seinem Segen für meine Großmutter. Unser Kontaktmann zum Himmel hat ganze Arbeit geleistet. Was keiner, bis auf den unerschütterlichen Dr. Werner, geglaubt hat, tritt ein. Meine Großmutter wird gesund. Uneinigkeit herrscht später lediglich darüber, wer oder was dieses Wunder bewirkt hat: der Heilige Vater oder die heilenden Kräfte des fränkischen Weizenbiers. Die Familie glaubt an den päpstlichen Segen, meine Großmutter an beides und ich an ihren Lebenswillen. Auch der meine wächst mit dem meiner Großmutter langsam wieder.
    *
    Das Gefühl völliger Gleichberechtigung zwischen meiner Großmutter und mir bestimmt meine Würzburger Jahre. Bei dieser Niederschrift fällt mir auf, dass ich immer das Wort »uns« verwende: unser Häuschen, unsere Pfarrersköchin; wenn jemand zu Besuch kommt, besucht er nicht meine Großmutter, er besucht uns. Dieses Gefühl definiert meine glückliche Kindheit. Sie beginnt an dem Tag, an dem mich meine Großmutter mit nach Würzburg nimmt, und endet mit meinem dreizehnten Lebensjahr, als ich sie verlassen muss.
    Diese sieben glücklichen Jahre bilden die Triebfeder meines Lebens. Ich bin wie eine Batterie, die alles aufnimmt und speichert, bewusst und unbewusst: die Liebe, die Nähe, das Vertrauen, die Geborgenheit, die Fröhlichkeit. Daraus kann ich mich für den Rest meines Lebens aufladen. Ich beziehe aus diesen Jahren die Kraft zu leben und zu lieben und später die Kraft zu verzeihen, mir und anderen. Auf die sieben fetten Jahre folgen die mageren, nur leider sind es mehr als sieben. Sie beginnen, als meine Pflegeeltern Annemi und Necko beschließen, mich nach Frankfurt zu holen, wohin sie inzwischen mit der Familie gezogen sind.
    Noch nach mehr als einem halben Jahrhundert fällt es mir schwer, den Augenblick des Abschieds von meiner Großmutter in meiner Erinnerung zuzulassen. Und noch immer tut es weh. Ich sitze im Fond des weißen Oldsmobils, mit dem meine Pflegeeltern aus Frankfurt angereist sind, und rüttele an der Wagentür. Ich will sie öffnen und zurück in die Arme meiner Großmutter. Ich schreie aus Verzweiflung und Ohnmacht. Meine Großmutter steht am Gartentor ebenso hilflos wie ich, doch ihre Trauer hat keine Tränen und keine Worte. Diese für mich völlig überraschende

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