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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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Trennung, die damit begründet wird, dass meine Großmutter nach ihrer schweren Krankheit und wegen ihrer Gehbehinderung der Betreuung und Erziehung eines halbwüchsigen Mädchens nicht gewachsen sei, hat mich damals zerrissen. Der Abschied von meiner Großmutter, auch wenn ich weiß, dass ich sie in den Ferien wiedersehen werde, ist der erste bewusst erlebte Schmerz meiner Kindheit.
    Der Liebe zwischen Großmutter und Enkelin hat die räumliche Trennung nichts anhaben können, auch wenn sie weh tut. Wir sehnen uns beide nach all dem, was wir füreinander sind, nach unserer Zweisamkeit. »Wir holen das alles nach, wenn Du kommst«, schreibt die Großmutter. Und dann ist es wieder so weit. Ich schiebe meine Großmutter im Rollstuhl über den Kiesweg zu unserem Lieblingsplatz an der Mauer unter der alten Eiche. Von erhöhter Warte aus, noch immer von den beiden steinernen Löwen bewacht, betrachten wir die Welt außerhalb der unseren, wir halten uns an den Händen, sehen hinüber in die Grünanlagen und schmieden gemeinsame Pläne. Der Platz unter der alten Eiche wird zum Ort unserer Zweisamkeit. Das sind die Momente, in denen meine Großmutter von ihrer Kindheit erzählt, manchmal auch von meinen Eltern. Sie ist der einzige Mensch, der offen mit mir über sie spricht. Sie kann es tun. Keiner hat meine Eltern mehr geliebt als sie. Ich bin ihr dankbar dafür. Von ihr erfahre ich zum ersten Mal von der vielschichtigen Persönlichkeit meines Vaters und der unkonventionellen Liebesbeziehung meiner Eltern.
    Auch als mich der zweite schwere Verlust meiner Jugend trifft, steht sie mir zur Seite. Der Stiefsohn eines Freundes der Familie, Hermann, ist eines Tages, als ich noch bei meiner Großmutter lebe, in meine durch sie, die Pfarrersköchin Käthe und einen Kreis alter Damen, die regelmäßig zum Romméspielen kommen, abgesteckte kleine Welt eingedrungen. Er ist der Erste, der mir von Rilke, Hölderlin, Hesse, Kleist, Nietzsche und Saint-Exupéry erzählt und mich so unversehens weg von meinen Leinwandhelden in die Welt der Literatur entführt. Weil das Geld für ein Studium fehlt, nimmt Hermann stattdessen eine Stelle im Arbeitsamt an. Dass er unter diesem Leben, das er sich so ganz anders erhofft hat, leidet, habe ich damals nicht begriffen. Auch nicht, dass er ihm auf unterschiedliche Weise zu entfliehen versucht: auf die Spitze der Berge, in den Geschwindigkeitsrausch, den er mit seinem Motorrad erlebt, in den Fechtkampf, in die Literatur und in seine Hütte. Als ich nach Frankfurt zu meinen Pflegeeltern ziehen muss, schreiben wir uns regelmäßig, und wenn ich in den Schulferien zu meiner Großmutter fahre, ist Hermann da.
    Dann steckt eine weiße Nelke im Briefkasten. Für mich das Zeichen, ihn anzurufen. Hermann nimmt mich mit auf seine Hütte, die er sich auf einem kleinen, geerbten Hanggrundstück gebaut hat. Am Anfang ist sie noch nicht fertig, und wir sitzen auf dem Baugerüst und blicken in die Sterne. Oft liest er mir aus seinem Lieblingsbuch Wind, Sand und Sterne von Saint-Exupéry vor, oder wir folgen dem sanften Franzosen auf seinem Nachtflug nach Arras . Als mich Hermann wieder einmal zu einem nächtlichen Ausflug abholt, ich bin inzwischen sechzehn Jahre alt, begrüßt ihn meine Großmutter mit den Worten: »Willkommen, Hermann, unser Hauskaplan.« Hermann weiß, was sie ihm sagen will. Er hält sich daran.
    Meinem Freund Hermann, dem Menschen mit den unerfüllten Träumen, der mehr vom Leben und der Liebe will, als er glaubt, dass ihm zustehe, kann ich nicht gerecht werden. Ich bin zu Beginn unserer Freundschaft dreizehn Jahre alt, er ist dreiundzwanzig. Es ist nicht der Altersunterschied, der uns in seinen Augen trennt. Er kann warten, bis die Jahre zwischen uns keine Bedeutung mehr haben. Es ist der vermeintliche gesellschaftliche Unterschied, den er fürchtet, nicht überbrücken zu können. Schließlich gesteht er mir seine Liebe, obwohl er meint, dass es keine Hoffnung für ihn gibt. In einem Brief ohne Datum schreibt er: »Ich hoffe, dass Dir das Leben die richtige Fassung gewährt, mir wohl niemals.«
    Die Briefe meines Freundes Hermann, die zwischen 1956 und 1960 entstehen, sind durchzogen von der Angst vor Verlust. In einem der späteren Briefe zieht er Parallelen zwischen dem Absturz, den der Verlust unserer Freundschaft für ihn bedeuten würde, und dem Absturz am Berg. Er schreibt: »Mit welchem Seil sollte ich mich vor diesem Sturz, der doch schicksalhafter Natur ist, schützen? Das Seil

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