Wie ein Licht in der Nacht - Sparks, N: Wie ein Licht in der Nacht
Nachmittags war sie seltsam nervös. Bestimmt hing die Unruhe mit dem Wetter zusammen. Aber während sie an ihrem Küchenfenster stand und zuschaute, wie sich die Zweige im Wind bogen und wie die Wasserfluten vom Himmel rauschten, wusste sie auf einmal, dass dieses Unbehagen mehr damit zu tun hatte, dass in ihrem Leben zurzeit alles fast zu perfekt schien. Ihre Beziehung mit Alex und die Nachmittage mit den Kindern füllten eine Leere, die sie vorher gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Aber sie wusste schon seit langem, dass nichts Schönes für immer währte. Glück war so vergänglich wie eine Sternschnuppe, die über den Abendhimmel sauste und jeden Augenblick verglühen konnte.
In der Bibliothek hatte sie in einem der dortigen Computer online den Boston Globe gelesen und dabei den Nachruf auf Gladys Feldman gefunden. Dass Gladys krank war, hatte sie gewusst. Auch, dass die Prognose schlecht war. Gladys hatte Krebs. Und doch traf sie die kurze Beschreibung ihres Lebens und der Hinterbliebenen mit unerwarteter Wucht.
Katie hatte nicht vorgehabt, die Papiere aus dem Ordner zu nehmen. Wahrscheinlich wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, wenn Gladys ihr nicht eines Tages Katies Schulabschlussfoto gezeigt hätte. Im selben Ordner befanden sich die Geburtsurkunde und die Karte mit der Sozialversicherungsnummer – und plötzlich erkannte Katie, welche Möglichkeit sich ihr da bot. Als sie das nächste Mal ihre Nachbarn besuchte, entschuldigte sie sich kurz und sagte, sie müsse auf die Toilette, ging aber stattdessen zu dem Aktenschrank im Arbeitszimmer. Später saß sie mit den Feldmans in der Küche, sie aßen Heidelbeerkuchen, aber Katie hatte das Gefühl, dass die Dokumente wie Feuer in ihrer Tasche brannten. Vor dem nächsten Besuch, etwa eine Woche später, machte sie in der Bibliothek eine Kopie der Geburtsurkunde, die sie faltete und knitterte, damit sie alt aussah, und diese Kopie legte sie heimlich in den Ordner. Am liebsten hätte sie das Gleiche mit der Sozialversicherungskarte gemacht, aber sie schaffte es nicht, eine echt aussehende Kopie herzustellen. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass die Feldmans dachten, die Karte sei verlegt worden oder verlorengegangen, wenn sie das Fehlen feststellten.
Kevin würde nie davon erfahren. Er konnte die Feldmans nicht leiden, und diese Gefühle beruhten auf Gegenseitigkeit. Wahrscheinlich hatten ihre Nachbarn mitbekommen, dass ihr Mann sie schlug. Das merkte Katie, weil die Feldmans immer mitleidig dreinschauten, wenn sie über die Straße gerannt kam, um sie zu besuchen. Und weil sie so taten, als würden sie die blauen Flecken an ihren Armen nicht sehen. Und weil sie verstummten, wenn sie Kevins Namen erwähnte. Katie versuchte sich einzureden, dass ihre Nachbarn mit ihrem Diebstahl einverstanden gewesen wären, da sie begriffen, dass sie die Papiere brauchte. Und bestimmt hätten sie ihr gern bei der Flucht geholfen.
Die Feldmans waren die einzigen Menschen in Dorchester, die sie vermisste. Zu gern hätte sie gewusst, wie es Larry ging. Die Nachbarn waren ihre Freunde gewesen, wenn sonst niemand für sie da war, und sie wollte Larry gern ihr Beileid aussprechen, mit ihm weinen, mit ihm über Gladys reden und ihm sagen, dass es ihr, Katie, jetzt so viel besser ging – dank seiner indirekten Hilfe. Sie wollte ihm erzählen, dass sie einen Mann kennengelernt hatte, der sie liebte, und dass sie zum ersten Mal seit vielen Jahren richtig glücklich war.
Doch das war alles nicht möglich. Stattdessen trat sie hinaus auf die Veranda und schaute zu, wie der Sturm die Blätter von den Zweigen riss.
»Du bist heute Abend so still«, sagte Alex. »Ist alles okay?«
Sie hatten einen Thunfischauflauf gegessen, und Alex half ihr beim Aufräumen und Geschirrspülen. Die Kinder saßen im Wohnzimmer und spielten beide mit kleinen Computern. Das Piepsen und Knattern hörte man bis in die Küche.
»Eine Freundin von mir ist gestorben«, antwortete Katie und reichte ihm einen Teller zum Abtrocknen. »Ich wusste, dass sie schwer krank ist, aber traurig ist es trotzdem.«
»Ja, so etwas ist immer traurig.« Weil Alex spürte, dass er nicht nachhaken durfte, wartete er schweigend ab, ob sie noch etwas hinzufügen wollte. Aber Katie spülte ein Glas und wechselte das Thema.
»Wann hört das Unwetter wohl endlich auf?«
»Ach, das dauert nicht mehr lange. Wieso fragst du?«
»Nun, ob der Jahrmarkt morgen überhaupt stattfinden kann? Und ob der
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