Wie ein Licht in der Nacht - Sparks, N: Wie ein Licht in der Nacht
trieb. Die Temperatur fiel rasch, und als Katie aus dem Haus ging, musste sie ein Sweatshirt anziehen. Der Laden befand sich knapp zwei Meilen von ihrem Cottage entfernt, das heißt, wenn sie zügig ging, brauchte sie eine gute halbe Stunde. Wenn sie also nicht in das drohende Unwetter kommen wollte, musste sie sich beeilen.
Als Katie die Hauptstraße erreichte, fing es bereits an zu donnern. Sie beschleunigte ihren Schritt. Die Luft wurde immer drückender, man roch das Salzaroma, das vom Meer heraufgeweht wurde. Ein Lastwagen rauschte an Katie vorbei, gefolgt von einer dichten Staubwolke. Vorsichtshalber wich sie auf den sandigen Seitenstreifen aus. Über ihr kreiste ein Rotschwanzbussard, der sich meistens von den Aufwinden tragen ließ.
Während sie zielstrebig in Richtung Laden eilte, begannen ihre Gedanken zu wandern. Sie musste wieder an die Unterhaltung mit ihrer Nachbarin denken. Nicht wegen der Geschichten, die sie ihr erzählt hatte, sondern wegen Jos Bemerkungen über Alex. Ach, Jo hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Sie, Katie, hatte nur Konversation gemacht, doch Jo war lediglich darauf aus gewesen, ihr die Worte im Mund umzudrehen. Alex war ein sympathischer Typ, und Kristen war ein sehr niedliches Kind, das stimmte, aber sie interessierte sich wirklich nicht für ihn. Sie kannte ihn ja kaum. Seit Josh ins Wasser gefallen war, hatten sie höchstens drei Sätze gewechselt. Und außerdem war eine Beziehung zurzeit das Allerletzte, was Katie sich wünschte.
Warum hatte sie dann das Gefühl, dass ihre neue Freundin versuchte, sie mit Alex zusammenzubringen?
Sie konnte es sich nicht erklären, aber im Grunde war es ihr gleichgültig. Sie freute sich, dass Jo heute Abend vorbeikam. Zwei Freundinnen, die zusammen ein Glas Wein trinken … etwas ganz Normales. Andere Leute, andere Frauen machten so was dauernd. Sie runzelte die Stirn. Okay – vielleicht nicht dauernd, aber die meisten gingen davon aus, dass sie das jederzeit tun könnten, wenn sie wollten. Vermutlich war das der Unterschied zwischen ihr und den anderen. Wie lange war es her, seit sie etwas getan hatte, was sich so normal anfühlte?
Eigentlich seit ihrer Kindheit. Seit der Zeit, als sie und ihre Freundin Emily Münzen auf die Bahngleise gelegt hatten. Aber sie hatte nicht alles erzählt – sie hatte zum Beispiel nicht erwähnt, dass sie oft zu den Gleisen geflohen war, um den Streitereien ihrer Eltern zu entkommen. Um nicht mehr hören müssen, wie sie sich mit lallenden Stimmen gegenseitig beschimpften. Sie hatte Jo auch nicht erzählt, dass sie mehr als einmal zwischen die Fronten geraten war. Mit zwölf war sie von einer Schneekugel getroffen worden, die ihr Vater nach ihrer Mutter geworfen hatte. Sie hatte eine Platzwunde am Kopf, die stundenlang blutete, aber weder ihr Vater noch ihre Mutter machten irgendwelche Anstalten, Katie ins Krankenhaus zu bringen. Sie hatte Jo auch verschwiegen, dass ihr Dad immer aggressiv wurde, wenn er betrunken war, und dass sie nie andere Kinder mit nach Hause bringen durfte, nicht einmal Emily, und dass sie nur deshalb nicht aufs College gegangen war, weil ihre Eltern fanden, das sei reine Zeit- und Geldverschwendung. Oder dass ihre Eltern sie an dem Tag, als sie die Highschool abschloss, aus dem Haus warfen.
Vielleicht würde sie ihrer Freundin das alles irgendwann erzählen. Vielleicht aber auch nicht. War es wirklich so wichtig? Was war denn schon dabei, dass sie keine perfekte Kindheit gehabt hatte? Ja, ihre Eltern waren Alkoholiker und oft arbeitslos gewesen, aber außer der Sache mit der Schneekugel war ihr körperlich nie etwas zugestoßen. Sie hatte zwar kein Auto bekommen und nie eine Geburtstagsparty gefeiert, aber andererseits war sie nie hungrig ins Bett gegangen, und im Herbst hatte sie immer neue Kleider für die Schule bekommen, gleichgültig, wie knapp das Geld zu Hause war. Ihr Vater hatte sich nie nachts heimlich zu ihr ins Zimmer geschlichen, um schreckliche Dinge mit ihr zu machen, Dinge, von denen sie wusste, dass manche Freundinnen sie erleiden mussten. Mit achtzehn betrachtete sie ihre Situation überhaupt nicht als aussichtslos. Sie war zwar ein bisschen enttäuscht, weil sie nicht aufs College gehen konnte, und nervös, weil sie sich allein und ohne Beistand in der Welt zurechtfinden musste, aber sie hatte nicht das Gefühl, so hoffnungslos kaputt zu sein, dass eine Reparatur unmöglich war. Und sie hatte es geschafft. Atlantic City war gar nicht übel gewesen. Sie
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