Wie ein reißender Strom: Roman (German Edition)
sie stieß einen langen, lauten Klagelaut aus.
Die Schultern des Babys hatten ihren Weg hindurchgefunden. In einem Augenblick würde es geboren sein. Grady Sheldon, der junge, attraktive Geschäftsmann, würde noch einen Burns am Hals haben. Die Vorstellung, mit Wanda Burns ein Kind gezeugt zu haben, verursachte ihm noch größere Übelkeit als alles, was er ringsherum sah und roch. Dass er sein Leben lang diesen weißen Abschaum würde unterstützen müssen, war undenkbar.
Wochenlang hatte er überlegt, was er tun sollte. Schließlich hatte er einen Entschluss gefasst, obwohl auch der undenkbar war. Aber Grady war verzweifelt. Und Verzweiflung zwang Männer zu Taten, die normalerweise undenkbar waren.
»Doggie hat mir gesagt, ich soll dafür sorgen, dass du nicht schreist. Ich denke, das sollte ich auch tun.« Er nahm ein Kopfkissen vom Bett. »Hör auf zu schreien, Wanda.«
Mit glasigen Augen, die jetzt nicht nur schmerzerfüllt, sondern auch voller Angst waren, schaute sie ihn an. »Was tust du? Hm? O Gott!« Sie knirschte mit den Zähnen, als eine neue Wehe sie packte. »O Gott, o Gott«, sang sie, während ihr Körper sich zusammenkrampfte, um das Leben aus ihrem Schoß herauszutreiben.
»Schrei nicht«, warnte Grady sie drohend.
»Ich kann … kann nicht anders …« Ihr Mund öffnete sich weit, und sie stieß einen Schrei aus, der die vorigen noch übertraf. Er drang aus ihrer Kehle, während das Kind aus ihrem Körper glitt.
Grady handelte.
Er legte das Kissen auf ihr Gesicht, drückte sie auf die Matratze zurück und hielt sie fest. Sie wehrte sich nur kurz. Stunden qualvoller Wehen hatten sie geschwächt. Grady entfernte das Kissen erst lange Zeit, nachdem ihre Glieder sich nicht mehr rührten.
Als er das Kissen hochhob, strömte ihm der Schweiß in kalten Bächen über den Körper. Er schaute Wanda nicht an, sondern senkte den Blick zu dem wimmernden Baby, das zwischen ihren Schenkeln lag. Er drehte es nicht einmal um, um zu sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Es hatte keinen Sinn, darauf Energie zu verschwenden. Lange würde es sowieso nicht leben. Nicht wenn sein Plan funktionierte. Und das musste er.
Er fuhr herum, als er Doggies schlurfende Schritte hörte. Auf Zehenspitzen ging er zur Tür, spähte hinaus und sah den Mann unsicher im Zickzackgang zur Hütte zurückkehren. Ungefähr bei jedem dritten Schritt hob er den Krug an den Mund, neigte den Kopf zurück und nahm einen tiefen Zug seines schwarzgebrannten Whiskys.
Als Doggie bei der Hütte anlangte, registrierte sein alkoholbenebelter Verstand, dass etwas fehlte. »Was’n los?«, murmelte er. Er wollte vorwärts gehen, stolperte jedoch und wäre beinahe über einen seiner Hunde gefallen. Er verfluchte ihn, torkelte auf die Veranda, packte einen der grobbehauenen Kiefernpfeiler, um nicht hinzufallen, und rief: »Was’n los da drinnen, hm? Wanda? Sheldon? Is’ das Kleine schon da?« Schlingernd machte er einen Schritt vorwärts. »Warum hört man da nix? Hm? Warum …«
Er sollte das Eichenfeuerholz, das ihm in dem Moment, als er die Tür durchschritt, den Schädel zertrümmerte, nie zu Gesicht bekommen. Schwer fiel er zu Boden.
Nachdem Grady einige Minuten die Luft angehalten hatte, trat er aus dem Schatten und beugte sich über Doggie. Der Mann rührte sich nicht. Mit dem Ärmel wischte Grady sich den Schweiß vom Gesicht.
Es war ihr Schicksal, so zu sterben, redete Grady sich ein. Sie waren Abschaum, nicht würdig, auf dem gleichen Planeten zu leben wie anständige Leute. Wer würde Doggie Burns und seine schlampige Tochter schon vermissen? Er hatte der Menschheit einen Dienst erwiesen, als er sie von ihnen befreite. Er hatte dem Schicksal nur ein wenig nachgeholfen, das war alles.
Er ging zu einer Apfelsteige, die als Nachttisch diente, und stieß wie zufällig die Kerosinlaterne um, vergewisserte sich, dass der Glasschirm auf dem Holzboden zerbrach und dass der Brennstoff sich in einer großen Lache ausbreitete.
Niemand konnte ihm hierfür die Schuld geben. In der letzten Zeit war das Schicksal ihm nicht besonders wohlgesonnen gewesen. Er hatte Banner verloren, einen wertvollen Grundbesitz und die Unterstützung und Wertschätzung der Colemans, die in Larsen County viel zählte. Er war in der Öffentlichkeit gedemütigt und in der Stadt von Leuten gemieden worden, die ihm sonst in den Arsch gekrochen waren. Er war ausgelacht worden. Er hatte ertragen, was ein Mann ertragen konnte. Aber von jetzt an würde er das
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