Wie ein stummer Schrei
hatte sie nur gegessen, um Rose nicht zu enttäuschen. Dabei wäre es doch so einfach gewesen, Marcus anzurufen und ihm zu sagen, sie habe ihre Pläne geändert. Schließlich machte er das auch immer wieder – doch ihr war diese Idee gar nicht erst gekommen.
Sie setzte sich auf die Treppe und vergrub frustriert die Finger in ihren Haaren. Was war bloß los mit ihr? Wann hatte sie sich zu einem so fügsamen Wesen entwickelt, und warum? Wieso machte sie es jedem recht, nur nicht sich selbst?
Seufzend dachte sie daran, wie sehr ihr ihre Mutter fehlte. Sie benötigte die Reaktionen einer anderen Frau auf das, was sie selbst empfand, doch außer ihrem alten Kindermädchen Anna Walden fühlte sie sich keiner Frau so eng verbunden, dass sie mit ihr über ihre Gefühle hätte reden wollen.
Der Gedanke an Anna reichte aus, um Olivia erkennen zu lassen, was sie tun wollte. Sie sprang auf und lief nach oben in ihr Zimmer. Das rote Kleid tauschte sie gegen eine alte Jeans und ein T-Shirt der Dallas Cowboys ein, zog die Sportschuhe an und steckte ihr Haar mit einer großen pinkfarbenen Klammer hoch. Sie wollte niemanden beeindrucken, sondern leger gekleidet sein.
Sie sagte Rose, was sie vorhatte, dann eilte sie zur Garage und steuerte zielstrebig ihren BMW an. Abrupt blieb sie stehen und überlegte es sich anders. Sie würde den schwarzen Chevy Trailblazer ihres Großvaters nehmen, da sie den Geländewagen über alles liebte.
Als sie rückwärts aus der Garage fuhr, fiel ihr ein, dass sie bereits seit Wochen nicht mehr am Steuer eines Wagens gesessen hatte. Es war ein gutes Gefühl, wieder selbst zu bestimmen, wo es langging, auch wenn es sich nur um ein Auto handelte.
Von dem merkwürdigen Gefühl begleitet, etwas Bedrohlichem entkommen zu sein, fuhr sie vom Grundstück in Richtung Freeway. Ihr Ziel war Arlington, wo Anna Walden heute lebte.
Dennis zitterte vor Begeisterung. Das Anwesen der Sealys auszuspähen, war eine grandiose Idee gewesen. Keine dreißig Minuten waren seit seiner Ankunft vergangen, da sah er den schwarzen Geländewagen, der das Grundstück verließ und davonfuhr. Die Fenster waren zu stark getönt, als dass er den Fahrer hätte erkennen können. Doch das war auch nicht nötig, denn das Kennzeichen SEALY1 verriet ihm, welcher Familie der Wagen gehörte. Außerdem wusste er, welchen Wagen Marcus fuhr. Die nächste Stufe seines Plans trat soeben in Kraft.
Dann auf einmal legte er den Kopf schräg und lauschte einer Stimme, die nur er wahrnehmen konnte.
“Ja, Herr … ich höre dich”, murmelte er und startete den Motor.
Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass er freie Fahrt hatte, dann beschleunigte er rasch und beeilte sich, den anderen Wagen nicht aus den Augen zu verlieren. Er wusste, Gott war auf seiner Seite.
Der sechzigste Geburtstag lag bereits hinter Anna Walden. Das Leben war nicht gnädig mit ihr umgegangen, doch das schien sie nicht zu stören. In ihrer Jugend war sie eine sehr attraktive und arrogante Frau gewesen, aber wer sie heute betrachtete, hätte das niemals vermutet. Nichts konnte sie seinerzeit auf die Launen des Schicksals vorbereiten, die sie schließlich zu Marcus Sealy führen sollten, um auf ein zweijähriges Mädchen aufzupassen, das von dem Erlebten ein Trauma zurückbehalten hatte. Doch vom ersten Tag an war ihr bewusst gewesen, dass es ihre Bestimmung war. Anna hatte Olivia genauso nötig gehabt wie umgekehrt.
Das Mädchen hatte sich unter ihrer Fürsorge zu einer stolzen und gebildeten jungen Frau entwickelt, dabei war ihr aber immer bewusst gewesen, dass der Tag kommen würde, an dem ihre Dienste im Haus der Sealys nicht länger benötigt wurden. Als es so weit war, war ihre Entlassung dennoch ein Schock für sie. Obwohl Marcus ihr eine großzügige Rente zahlte und sie in einem schönen Bungalow in einem angenehmen Viertel leben konnte, war der Schmerz über den Verlust ihres Lebensinhalts dadurch nicht gelindert worden.
Über die Jahre hinweg lernte sie, damit umzugehen, und erfreute sich an den spontanen Besuchen, die Olivia ihr von Zeit zu Zeit abstattete. Das galt auch für ihren Geburtstag, an dem das Mädchen regelmäßig vorbeikam und mit Anna ausging. Außerdem mochte sie die Karten und Briefe, die Olivia ihr schrieb. Erst vor kurzem hatte sie mindestens ein halbes Dutzend Ansichtskarten von Marcus und seiner Enkelin bekommen, als die durch Europa gereist waren. Anna war stolz auf die Frau, zu der sich Olivia entwickelt hatte, doch ihr war nie der
Weitere Kostenlose Bücher