Wie ein stummer Schrei
Daumen sind ungewöhnlich, nur kann so etwas doch nicht ausschließlich in deiner Familie vorkommen.”
“Stimmt, aber das war nicht alles.”
“Was denn noch?” wollte Anna wissen.
“Der Gerichtsmediziner sagt, die Überreste seien etwa fünfundzwanzig Jahre alt … Du weißt, was damals geschah … Wir mussten eine DNS-Probe abgeben, um zu beweisen, dass ich wirklich ich selbst bin.” Tränen stiegen ihr in die Augen. “Oh, Nanna, ich weiß, es ist albern. Trotzdem habe ich Angst. Was ist, wenn ich gar nicht Grampys Enkelin bin? Wenn das arme tote Baby die echte Olivia ist?”
Anna schob das Kinn vor, nahm Olivias Hände und sagte mit fester Stimme: “Jetzt hör mir gut zu. Das ist doch Unsinn, und das weißt du ganz genau. Du bist Marcus Sealys Enkelin. Ich kenne die Fotos, und du kennst sie auch. Ich kann nicht glauben, wie du auch nur für eine Minute denken kannst, dass du nicht Olivia bist. In deinen Adern fließt das Blut der Sealys. Und nun reiß dich zusammen!”
Sekundenlang war Olivia irritiert. Sie hatte Mitgefühl von ihr erwartet, nicht aber eine schroffe Ermahnung. Erst dann begriff sie und begann zu lächeln. “Oh, Nanna, du fehlst mir so sehr. Ich kam her, weil ich dachte, ich müsste bemitleidet werden. Aber du hast sofort gemerkt, dass mir mal jemand den Kopf waschen muss.”
Anna drückte sie fest an sich. “Schon gut, Sweetheart. Deine Nanna ist ja bei dir. Ich wollte nicht so wütend klingen, aber du darfst nicht an dir zweifeln. Niemals darfst du das!”
“Du hast Recht”, erwiderte Olivia. “Keine Zweifel mehr. Ich glaube, jetzt könnte ich etwas zu trinken vertragen …”
Erst nachdem Anna ihr lange in die Augen gesehen und offenbar das entdeckt hatte, wonach sie suchte, lächelte sie und tätschelte Olivias Wange. “Ich habe Eistee da … süßen Eistee, wie du ihn magst.”
“Das hört sich gut an”, antwortete sie. “Ich helfe dir.”
Beim Aufstehen stöhnte Anna leise auf.
Olivia bemerkte, wie sie vor Schmerzen kurz das Gesicht verzog, und fragte besorgt: “Geht es dir auch gut?”
“Ja, mir geht es gut”, sagte Anna. “Aber meine Knochen werden halt nicht jünger.”
Als sie das Wort ‘Knochen’ hörte, lief ihr ein Schauer über den Rücken, da es sie daran erinnerte, weshalb sie hergekommen war. Sie erhob sich ebenfalls und legte einen Arm um Annas Schultern.
“Es tut mir Leid, dass ich dich so lange nicht mehr besucht habe”, erklärte sie leise. “Lass uns den Tee holen.”
Anna reagierte mit einem Lächeln, als sie in die winzige Küche gingen. Es tat gut, immer noch gebraucht zu werden.
Nachdem sie ihren Gast dazu gebracht hatte, sich an den Tisch zu setzen, holte sie die Getränke. Olivia war zunächst einfach nur froh darüber, ihre Nanna wiederzusehen, deshalb fiel ihr auch das merkwürdige Verhalten nicht sofort auf. Doch als die zwei Gläser mit Tee brachte und dann die Eiswürfel in einer Schüssel dazustellte, stutzte sie. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Anna wandte sich ab und holte eine Schachtel aus dem Vorratsschrank, die sie neben die Schüssel mit dem schmelzenden Eis stellte. “Ich habe sie nicht selbst gebacken, aber sie schmecken gut”, erklärte sie. “Ich hole noch Servietten, dann sind wir so weit.”
Ungläubig starrte Olivia auf die Packung Stahlschwämme, die vor ihr auf dem Tisch stand.
“Nanna …”, brachte sie nur mit Mühe heraus, da die Situation so beängstigend war, dass sie ihr die Kehle zuschnürte.
Anna sah sie lächelnd an, doch ihre Augen schienen eine andere Welt wahrzunehmen. “Hast du keinen Hunger, Liebes? Wenn die Kekse dir nicht zusagen, kann ich uns Sandwiches machen. Ja … ja, das wäre überhaupt eine gute Idee. Ein Sandwich. Und dazu Chips. Du magst doch Chips, oder?”
“Nicht nötig”, erwiderte Olivia, stand auf und fasste Anna an den Schultern. “Ich habe keinen Hunger, Nanna. Jetzt setz dich zu mir und trink deinen Tee.”
Mit einem Mal machte Anna Walden wieder einen klaren Eindruck. “Ja, der Tee. Und du erzählst mir von eurem Urlaub.”
Nachdem sie beide am Tisch saßen, schob Olivia ihr das Glas Tee hin und stellte die Packung mit den Stahlschwämmen außer Sichtweite auf einen Stuhl. Ihre Finger zitterten, ihr Herz raste, doch sie zwang sich, Ruhe zu bewahren.
Anna sah lange das Glas an, dann nippte sie vorsichtig daran. “Das ist Tee … richtig?” Sie probierte erneut und lächelte. “Oh ja, es ist Tee. Ein guter Tee. Und süß ist er auch, so wie wir ihn
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