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Wie es uns gefällt

Wie es uns gefällt

Titel: Wie es uns gefällt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Ackroyd
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Doppelkinn zugelegt, ohne dabei ihre jugendliche Ausstrahlung zu verlieren. Früher war sie als «reizendes Geschöpf» tituliert worden, ein Attribut, auf das sie immer noch unvermindert Anspruch erhob.
    «Ihr werdet nie erraten, wer mich heute früh auf der Straße aufgehalten hat. Mrs Morrison! Ihr wisst ja, dass ich sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe. Und sie trug immer noch dieselbe Haube, ich schwöre es. Hoch und heilig.»
    Samuel Ireland starrte gedankenverloren vor sich hin. Irgendetwas schien ihn zu beunruhigen. Sein Sohn konnte seine Ungeduld kaum verbergen.
    «Nun, William, wie ich sehe, möchtest du dich erheben. Bitte, tu das.»
    Er sah seinen Vater an, dessen Miene nichts zu entnehmen war.
    «Vater, darf ich jetzt gehen?»
    «Was? Ja. Selbstverständlich.»
    «Ich möchte dir etwas zeigen.»
    «Was denn?»
    «Eine Überraschung.» William stand auf. «Aus dem Bücherschrank.» Damit meinte er den darunterliegenden Laden, obwohl er gelernt hatte, diesen Ausdruck in Gegenwart seines Vaters niemals zu verwenden. «Es ist ein Geschenk. Etwas, was du dir immer sehnlichst gewünscht hast.»
    «Wünsche sind Dämonen, William. Wünsche dir nie etwas zu sehr.»
    «Ich nehme trotzdem an, dass es dir willkommen ist.»
    «Ein Buch?» Samuel Ireland warf rasch einen Blick zu Rosa Ponting hinüber, die sich für solche Dinge nicht im Geringsten interessierte, und murmelte: «Rosa, ich überlasse dich deinen Kartoffeln.»
    Er ging hinter seinem Sohn die einfache Holztreppe hinunter, die die Buchhandlung vom übrigen Haus trennte.
    William holte aus einem der Regale ein Stück Pergament und legte es auf den hölzernen Ladentisch. Er strahlte vor Begeisterung. «Was ist das? Was meinst du?»
    Samuel betastete mit der Fingerspitze das Papier. «Eine Urkunde. Vermutlich aus der Zeit von James dem Ersten.»
    «Schau genauer hin, Vater.»
    «Und worauf soll ich besonders achten?»
    «Vielleicht interessieren dich die Zeugen.»
    Samuel Ireland zog eine Brille aus seiner Jackentasche. «Nein, das ist unmöglich.»
    «Doch.»
    «Wo hast du das gefunden?»
    «In dem Raritätenladen hinter dem Grosvenor Square, in einem ganzen Bündel von Urkunden. Als ich die Schnur zerriss, fiel dieses Blatt auf den Boden. Schon beim Aufheben stach mir die Unterschrift ins Auge.»
    «Wie viel hat sie gekostet?» Diese Frage kam blitzschnell.
    «Einen Shilling.»
    «Ein gut angelegter Shilling.»
    «Das Blatt gehört dir, Vater. Ein Geschenk.»
    «Davon habe ich immer geträumt.» Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit seinem Taschentuch. «Der Name von William Shakespeare, in seiner eigenen Handschrift. Noch nie habe ich ein so außergewöhnliches Dokument gesehen.»
    «Und das steht einwandfrei fest?»
    «Einwandfrei. Ich habe Shakespeares Testament in der Bibliothek der Rolls Chapel gesehen. Siehst du den schwungvoll doppelt durchgestrichenen Abstrich des Buchstaben ‹p›? Das muss man als ‹per› lesen. Siehst du das unvollständige ‹k› und das ‹e› mit der umgekehrten Schleife? Diese Urkunde ist echt.»
     
     
    «Nehmt alles nur in allem», hatte er einmal seinem Sohn erklärt, als sie nach dem Frühstück beisammen saßen, «so ist er unser wahrer Ahnherr. Chaucer ist der Vater unserer Poesie, aber Shakespeare der Vater unseres Dramas. Vor Romeo und Julia gab es kein wahres Liebespaar. Vor Othello wusste niemand, was Eifersucht ist. Und auch Hamlet ist ein großartiges Original.» Er erhob sich von seinem Stuhl und trat an den Kaminsims im Speisezimmer, wo eine kleine, aus dem Holz des Maulbeerbaums geschnitzte Shakespeare-Büste stand. Er hatte sie vor sechs Monaten in Stratford-upon-Avon gekauft. «Und doch hatten seine ungebildeten Zeitgenossen nie Verständnis für sein Genie. Eine Gesamtausgabe seiner Theaterstücke erschien erst nach seinem Tod, doch selbst darin sind die Texte zum Teil so verfälscht, dass viele Stellen keinen Sinn ergeben. Einige Stücke sind schlicht und einfach verschwunden.»
    «Verschwunden? Wohin?»
    «Im Schlund der Zeit unwiederbringlich verloren, würde unser Barde sagen. Cardenio, Vortigern, Love’s Labour’s Won – alles dahin.»
    Manchmal las Samuel Ireland nach dem Abendessen seinem Sohn Shakespeare vor. William konnte sich noch genau an die Nebelschwaden und die Regenschauer draußen vor dem Schaufenster erinnern. Während sein Vater Verse deklamierte, stand hinter ihm die Öllampe auf dem Tisch und zeichnete den Schattenriss seines Kopfes auf das aufgeschlagene

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