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Wie es uns gefällt

Wie es uns gefällt

Titel: Wie es uns gefällt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Ackroyd
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geliebt?»
    «O ja. Schon als kleines Kind habe ich Verse von ihm aufgesagt. Mein Vater hat sie mir beigebracht.» William hatte die Abende noch lebhaft vor Augen, an denen er auf einem Tisch stand und mit heller, klarer Stimme Hamlets oder Lears Monologe deklamierte. Samuel Irelands Freunde hatten ihn für eine Art Wunderkind gehalten.
    «Auch Charles und ich haben seine Stücke gespielt.»
    Während sich Marys Eltern am langsam erlöschenden Kaminfeuer mit sich selbst beschäftigten, erzählte sie ihm, wie sie und ihr Bruder die verschiedenen Rollen gestaltet hatten: Beatrice und Benedikt aus Viel Lärm um nichts, Rosalinde und Orlando aus Wie es euch gefällt oder auch Ophelia und Hamlet. Sie kannten die Texte in- und auswendig und hatten sie nach eigenem Gutdünken mit den passenden Handlungen und Gesten zum Leben erweckt. Mary hatte sich in ihrer Rolle als Ophelia weinend abgewandt, während Charles als Hamlet mit finsterer Miene energisch mit dem Fuß aufgestampft hatte. Für Mary waren diese Szenen realistischer und von größerer Bedeutung als alle Ereignisse des Alltags.
    «Charles hingegen empfand sie meiner Ansicht nach als Teil eines Spiels. Aber jetzt rede ich wirklich zu viel.»
    «Ganz und gar nicht. Das alles interessiert mich ungemein. Vielleicht würde es Sie, Miss Lamb, Ihrerseits interessieren, dass ich seine Unterschrift entdeckt habe.»
    «Was meinen Sie damit?»
    «Shakespeares Unterschrift. Es handelt sich um eine alte Urkunde aus der Zeit von James dem Ersten. Mein Vater hat die Echtheit des Dokuments bestätigt.»
    «Und es ist tatsächlich seine Handschrift?»
    «Das steht zweifelsfrei fest.» William bemerkte, dass die Narben in ihrem Gesicht etwas weißer waren als die gesunde Haut. «Ich habe das Blatt in einem Raritätenladen entdeckt. Hinter dem Grosvenor Square.»
    «Wer so etwas sein Eigen nennen könnte – »
    «Ich habe mir schon oft überlegt, dass Shakespeares persönliche Papiere irgendwo eingelagert sein müssen. Der Inhalt seines Arbeitszimmers und seiner Bibliothek ist einfach verschwunden. Sie werden in keinem Testament erwähnt, obwohl seine Familie sie gewiss sehr geschätzt hat.»
    «Natürlich.»
    «Solche Papiere hat man sicher aufbewahrt.»
    «In Stratford?»
    «Wer weiß das schon, Miss Lamb?» Er spürte, dass zwischen ihnen eine gewisse Nähe herrschte, ohne dass er hätte sagen können, woher sie rührte. Sie schien ganz unverhofft über sie gekommen zu sein.
    Inzwischen hatte Marys Vater ein altes Lied angestimmt. «Ich habe mich oft gefragt», sagte sie so laut, wie sie es wagte, «wie Shakespeare wohl gewirkt haben mag. Ich meine, als er noch lebte.»
    «Er hatte zweifellos einen sehr klaren Verstand.»
    «Das steht außer Frage. Einen einzigartig klaren Verstand.»
    «Er war sicher offen und großzügig. Und ehrlich.»
    «Er hatte einen beschwingten Schritt und ließ sich durch keine Macht der Welt bedrücken.»
    «Selbstverständlich nicht. Er hatte diese innere – » Williams Stimme wurde lauter, doch dann stockte er. «Wie Sie schon sagten, Miss Lamb, er war kein gewöhnlicher Sterblicher.»
    Plötzlich kam ihm der Raum kleiner vor. Er fühlte sich Mary eindeutig näher, aber auch ihren Eltern und sogar den Miniaturen an den Wänden.
    «Trotzdem wusste er ganz genau, was es hieß, ein normaler Mensch zu sein. Meinen Sie nicht auch, Mr Ireland?»
    «Er kannte das ganze Spektrum des Daseins.»
    «In seinen Stücken treten ganz normale Menschen auf, Ammen, Gefangene, Bürger. Und doch grenzt ihre Normalität ans Genialische.» In Marys Worten spiegelte sich deutlich ihre Einsamkeit. Gewiss hatte sie ihre Gedanken noch nicht oft mit jemandem geteilt. Dazu sprach sie mit zu viel Nachdruck. «Denken Sie nur an Julias Amme», sagte sie. «Sie ist die Quintessenz aller Ammen, die es je gab oder geben wird.»
    «Und dann wäre da noch der Pförtner im Macbeth.»
    « Achja, den hatte ich vergessen. Wir müssen eine Liste mit den ganz normalen Menschen bei Shakespeare erstellen.» Sie wandte sich an ihre Mutter: «Mama, wo mag Charles wohl sein?»
    «Wo er nicht sein sollte, denke ich mal.»
    Mit einem Seufzer des Missfallens nahm Mrs Lamb ihre Stickerei zur Hand. Es klang durchaus zufrieden. Ihr Mann war neben den glimmenden Feuerresten eingeschlafen.
    «Mr Ireland, darf ich Ihnen etwas vorspielen? Damit ließe sich eine Vermutung untermauern.»
    Mary trat an das kleine Piano, das in einer Nische neben dem Kamin stand, schlug den Deckel zurück und begann zu

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