Wie es uns gefällt
«Andererseits kursierten in der kleinen Stadt auf dem Land sicher Gerüchte über einen Selbstmord, die auch dem jungen Shakespeare zu Ohren kamen, noch dazu durch seine Arbeit in einer Kanzlei. Eine junge Frau treibt auf dem Fluss dahin. Sie heißt Hamlet. Könnte das die Geburtsstunde der Ophelia gewesen sein?» Anders als zu Beginn seines Vortrags zeigte William kaum mehr Zeichen von Verlegenheit und Beklemmung. «Vielleicht trieb Katherine auf dem Avon direkt der Unsterblichkeit entgegen.» Viele Zuhörer waren mit jähen Todesfällen vertraut. Mit so etwas musste man unter den gegebenen Lebensbedingungen in London durchaus rechnen. Und auch hier ging öfter jemand ins Wasser. Deshalb lauschten sie stumm Williams Worten. Einige dachten unwillkürlich an ein Kind oder an einen Verwandten, den sie verloren hatten.
Unter den Zuhörern befand sich ein junger Mann, der vor einem Jahr von Manchester nach London gekommen war: Thomas de Quincey. Er dachte bei diesen Worten an Anne. Unter einem anderen Namen kannte er sie nicht. Bei seiner Ankunft in der Stadt hatte er keine Menschenseele gekannt. Da er kaum über Geld verfügte, hatte er sich an einen entfernten Verwandten gewandt. Dieser Cousin zweiten oder dritten Grades besaß in London mehrere Immobilien, darunter ein verfallenes, leer stehendes Haus in der Berners Street. Er gab de Quincey die Schlüssel und meinte, unter diesem Dach könne er hausen, bis er eine eigene Wohnung gefunden hätte. Dieser nahm das Angebot erfreut an und begab sich sofort in die Berners Street, wo er sich mit seinen wenigen Habseligkeiten im Erdgeschoss einrichtete. Im Haus fand er einen zerfetzten Teppich und eine alte Sofadecke vor, auf denen er schlafen konnte. Zum Essen blieb ihm noch eine halbe Guinee, und er bildete sich ein, damit käme er aus, bis er eine Beschäftigung als Schreiblehrer oder Kontorgehilfe gefunden hätte.
Im Laufe dieser ersten Nacht entdeckte er, dass er Gesellschaft und das Haus noch einen zweiten Bewohner hatte, ein höchstens elf- oder zwölfjähriges Mädchen. Sie hatte sich vor den Naturgewalten hierher geflüchtet.
«Ich hatte den Wind und den Regen satt», erklärte sie ihm. «Bei dem Wetter ist es auf der Straße bitter.»
Er wollte wissen, wie sie das Haus gefunden habe, aber sie verstand seine Frage falsch und antwortete: «Gegen Ratten habe ich nichts, nur gegen Geister.»
Sie schilderte, wie sie in diese Situation geraten war. Es war eine altbekannte Londoner Geschichte von Not, Verwahrlosung und Elend, die sie älter aussehen ließ, als sie tatsächlich war. De Quincey und Anne wurden Freunde oder, besser gesagt, Verbündete gegen die Kälte und die Dunkelheit. Oft liefen sie gemeinsam durch die Straßen. Sie gingen durch die Berners Street zur Oxford Street, wo sie vor dem Überqueren der Straße beim Goldschmied an der Ecke stehen blieben. Danach kamen sie beim Wagner in der Wardour Street vorbei, ehe sie in die Dean Street einbogen. Hier blieben sie immer beim Zuckerbäcker stehen. Da de Quincey nur Geld für das Allernötigste hatte, drückten sie sich die Nasen an dem goldgerahmten Fenster platt, hinter dem sich Berge von Plundergebäck, Hefeteilchen und Kuchen zum Verkauf türmten.
Schließlich bekam de Quincey starkes Fieber mit Schüttelfrost. Zwischen kurzen unruhigen Schlafphasen zitterte er Tag und Nacht wie Espenlaub unter sämtlichen Decken, die Anne für ihn auftreiben konnte. Entweder war Anne ungemein zielstrebig oder schlau. Jedenfalls schaffte sie wie durch ein Wunder mehrere Schüsseln heißer Grütze herbei, die sie ihm löffelweise eingab. Dann kroch sie ganz dicht an ihn heran, um «die bösen Dampfe aus ihm herauszuziehen», wie sie es nannte, und tupfte ihm mit einem Stück Musselin die Stirn ab. Eine Woche war er krank, dann erholte er sich wieder und schwor, sich bei dem Mädchen zu revanchieren, koste es, was es wolle.
Nach diesem Zwischenfall rief ihn sein Cousin zu sich; er sollte für ihn eine kleine geschäftliche Angelegenheit erledigen. Diesen Auftrag nahm de Quincey bereitwillig an. Schließlich käme er dadurch wieder zu Geld. Im Rahmen dieser Tätigkeit musste er nach Winchester reisen, aber er versprach Anne, innerhalb von vier Tagen wieder zurück zu sein. Fünf Tage später kam er wieder in die Berners Street und fand ein leeres Haus vor. In dieser Nacht und fast den ganzen nächsten Tag blieb er dort, allein. Am nächsten Abend suchte er die vertrauten Straßen ab, durch die sie in ihrem
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