Wie funktioniert die Welt?
Erklärung befreiten, die ihnen vor 150 Jahren untergeschoben wurde. Sie war zweifellos schön, und sie war verblüffend falsch.
Der Urheber dieser Erklärung war einer der größten Physiker des 19 . Jahrhunderts: William Thomson, auch unter dem Namen Lord Kelvin bekannt. Das Spektrum seiner Leistungen reichte vom Konkreten (er fand heraus, wie man ein Telegraphenkabel von Europa nach Amerika verlegen kann) bis zum Abstrakten (dem Ersten und Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik). Einen großen Teil seiner Berufslaufbahn verwendete Kelvin auf die Entwicklung von Gleichungen, mit denen er berechnen konnte, wie schnell etwas abkühlt. Dabei wurde ihm klar, dass er mit diesen Gleichungen auch das Alter der Erde abschätzen konnte. »Die mathematische Theorie, auf die sich diese Schätzungen gründen, ist sehr einfach«, erklärte Kelvin 1862 , als er sie veröffentlichte. [18]
Zu jener Zeit waren sich die Wissenschaftler allgemein einig, dass die Erde anfangs eine Kugel aus geschmolzenem Gestein gewesen sei, die sich seither ständig abkühlte. Eine solche Vorgeschichte würde erklären, warum das Gestein in tiefen Bergwerken heiß ist: Als Erstes kühlt sich die Erdoberfläche ab, und die noch verbliebene Wärme innerhalb des Planeten wird seitdem ständig in den Weltraum abgegeben. Kelvin war überzeugt, die Erde müsse im Laufe der Zeit immer kälter werden. Mit Hilfe seiner Gleichungen berechnete er, wie lange es dauern würde, bis eine Kugel aus geschmolzenem Gestein auf die heutige Temperatur der Erde mit ihrer beobachteten Wärmeströmung abgekühlt wäre. Sein Urteil lautete: kurze 98 Millionen Jahre.
Die Geologen heulten protestierend auf. Wie alt die Erde war, wussten sie nicht, aber sie rechneten nicht mit Jahrmillionen, sondern mit Jahrmilliarden. Charles Darwin – der anfangs Geologe und erst später Biologe war – schätzte, dass es 300 Millionen Jahre dauerte, bis ein Tal in England durch Erosion seine heutige Form angenommen hat. Die Erde selbst, so Darwin, musste viel älter sein. Als er seine Evolutionstheorie veröffentlichte, ging er ganz selbstverständlich davon aus, dass die Erde unvorstellbar alt ist; der Luxus der langen Zeiträume verschaffte ihm den Spielraum, in dem die Evolution langsam und unmerklich tätig werden konnte.
Kelvin kümmerte das nicht. Seine Erklärung war so elegant, so schön, so einfach – sie musste einfach stimmen. Welche Schwierigkeiten sie anderen Wissenschaftlern bereitete, die sich nicht um die Thermodynamik kümmerten, spielte keine Rolle. Noch mehr Probleme bereitete Kelvin den Geologen, als er seine Gleichungen noch einmal überprüfte. Dabei gelangte er zu dem Schluss, seine erste Schätzung sei zu großzügig gewesen. In Wirklichkeit sei die Erde wahrscheinlich nur 10 Millionen Jahre alt.
Wie sich herausstellte, hatte Kelvin unrecht, aber nicht deshalb, weil seine Gleichungen hässlich oder unelegant gewesen wären. Sie waren fehlerfrei. Das Problem lag in der Vorstellung von der Erde, auf die Kelvin seine Gleichungen anwandte.
Die Geschichte von Kelvins Widerlegung in späteren Jahren weist einiges an Durcheinander auf. Viele Autoren (darunter auch ich selbst) stellten die falsche Behauptung auf, sein Irrtum sei darauf zurückzuführen, dass er nichts über Radioaktivität wusste. Die Radioaktivität wurde erst Anfang des 20 . Jahrhunderts entdeckt, als die Physiker auf die Quantenphysik stießen. Der Physiker Ernest Rutherford erklärte, die Wärme, die beim Zerfall radioaktiver Atome im Erdinneren freigesetzt wird, mache den Planeten wärmer, als er ohne diese wäre. Eine heiße Erde musste also keine junge Erde sein.
Dass Radioaktivität mit der Freisetzung von Wärme verbunden ist, stimmt, aber ihr Umfang im Inneren des Planeten ist nicht so groß, dass man damit die abgestrahlte Hitze erklären könnte. Kelvins eigentlicher Fehler lag in der Annahme, die Erde sei nur eine feste Kugel aus Gestein. In Wirklichkeit fließt das Gestein wie Sirup: Seine Wärme hebt es in Richtung der Erdkruste, wo es abkühlt und dann wieder in die Tiefe sinkt. Diese Umwälzung der Erde ist die Ursache von Erdbeben; sie treibt alte Krustenteile in die Tiefe des Planeten und bringt an den mittelozeanischen Rücken neue Kruste hervor. Außerdem treibt sie Wärme mit viel größerer Geschwindigkeit, als Kelvin es sich vorstellte, nach oben in die Kruste.
Das heißt nicht, dass die Radioaktivität keinen Anteil an dem Beweis für Kelvins Irrtum hatte. Die
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