Wie funktioniert die Welt?
Unterschiede zwischen den Gruppen hervorgebracht haben.
Psychiater, Psychologen und Therapeuten beschäftigen sich schon seit langem mit unseren Kindheitserlebnissen und insbesondere mit der Frage, wie diese unsere Einstellungen und Verhaltensweisen als Erwachsene prägen. Dabei haben sie sich auf die Mechanismen konzentriert, mit denen das Gehirn solche Erfahrungen integriert und sich daran erinnert. Epigenetische Untersuchungen liefern eine andere Erklärung. Die Jungen von Rattenmüttern beispielsweise, die in der ersten Woche nach der Geburt mehr Zeit darauf verwenden, die Nachkommen zu lecken und zu kraulen, sind als ausgewachsene Tiere besser angepasst. Und der Wissenschaftler Moshe Szyf vermutet, dass eine solche Feinabstimmung des Verhaltens eintritt, weil während der entscheidenden Entwicklungsphase epigenetische Mechanismen ausgelöst werden, so dass ein Gen, das ein bestimmtes Protein codiert, schließlich in einer aktiveren Version vorliegt. Dieses Protein setzt dann über komplizierte Reaktionswege eine Rückkopplungsschleife im Hippocampus des Gehirns in Gang, und das versetzt die Ratten in die Lage, besser mit Stress fertig zu werden. [24]
Solche Verhaltensabwandlungen bleiben während des Erwachsenenlebens stabil. Spritzt man aber erwachsenen Ratten spezifische Substanzen ins Gehirn, die diese epigenetischen Prozesse verändern und die Expression der betreffenden Gene unterdrücken, werden die gutangepassten Ratten nach Szyfs Feststellung ängstlich und furchtsam. Verabreicht man ihnen dagegen andere Wirkstoffe, die über die Auslösung epigenetischer Prozesse die Expression des fraglichen Gens verstärken, werden ängstliche ausgewachsene Ratten (die in ihrer Jugend nur wenig mütterliche Fürsorge erfahren hatten) lockerer.
Gene enthalten die Anweisungen; epigenetische Faktoren bestimmen darüber, wie die Anweisungen ausgeführt werden. Und wenn wir älter werden, so die Berichte der Wissenschaftler, verändern und entwickeln diese epigenetischen Prozesse weiterhin unser Wesen. Bei Zwillingen beispielsweise findet man im Alter von 50 Jahren dreimal mehr epigenetische Abwandlungen als mit drei Jahren; und Zwillinge, die getrennt aufgewachsen sind, zeigen mehr epigenetische Abwandlungen als jene, die gemeinsam groß geworden sind. Epigenetische Untersuchungen liefern den Beweis, dass Gene kein Schicksal sind; die Umwelt ist es aber auch nicht – nicht einmal bei Menschen.
Dies wurde von Shelley Taylor nachgewiesen. Sie und ihre Kollegen beschäftigten sich mit einem Allel (einer genetischen Variante) im Serotoninsystem und konnten zeigen, dass die Symptome von Depressionen nur dann erkennbar werden, wenn dieses Allel in Kombination mit bestimmten Umweltbedingungen exprimiert wird. Außerdem, so Taylors Erkenntnis, haben Personen, die in instabilen Verhältnissen aufgewachsen sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit während ihres ganzen Lebens mit Depressionen, Ängsten, bestimmten Krebsformen, Herzkrankheiten, Diabetes oder Fettsucht zu kämpfen. [25] Epigenetik in Aktion? Vermutlich.
Noch bemerkenswerter ist, dass manche epigenetischen Anweisungen von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Generationenübergreifende epigenetische Abwandlungen sind heute bei Pflanzen und Pilzen belegt, bei Mäusen spricht vieles dafür. Gene gleichen den Tasten eines Klaviers; die epigenetischen Prozesse bestimmen darüber, wie die Tasten gespielt werden – sie wandeln die Melodie ab und geben diese Abwandlungen auch an zukünftige Generationen weiter. Im Jahr 2010 schrieben Wissenschaftler sogar in der Fachzeitschrift
Science
, epigenetische Systeme seien nach heutiger Kenntnis erblich, selbsterhaltend und reversibel.
Wenn epigenetische Mechanismen unsere geistigen und körperlichen Fähigkeiten nicht nur beeinflussen können, sondern diese Veränderungen auch an unsere Nachkommen weitergeben, ergeben sich aus der Epigenetik ungeheure, weitreichende Folgerungen für Ursprung, Evolution und Zukunft des Lebens auf der Erde. In den kommenden Jahrzehnten werden die Epigenetiker vermutlich verstehen, wie unzählige Umwelteinflüsse sich auf ganz bestimmte Weise auf unsere Gesundheit und Lebensdauer auswirken; man wird Heilungsmöglichkeiten für viele Krankheiten und Gesundheitsstörungen finden und vielschichtige Persönlichkeitsunterschiede zwischen den Menschen erklären können.
Im 17 . Jahrhundert war der Philosoph John Locke überzeugt, dass der Geist des Menschen ein unbeschriebenes Blatt
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