Wie funktioniert die Welt?
Realität. (Als Descartes sagte »ich denke, also bin ich«, meinte er damit zweifellos so etwas wie »das Ich ist das Einzige, von dem wir sicher wissen, dass es existiert«.)
Wir sollten uns also vorstellen, dass Milinda in einem königlichen Wagen sitzt, dahinter ein großes Gefolge von Höflingen und Soldaten, ihm gegenüber Nagasena und dessen Gefolge aus buddhistischen Mönchen, und es folgt eine große Diskussion um die Natur des Ich, Realität und Kreativität. Eine großartige Vorstellung.
Milinda bittet Nagasena, die Vorstellung des Buddha vom »Ich« zu erläutern. Darauf fragt Nagasena: »Herr, wie seid Ihr hierhergekommen?« Worauf Milinda erwidert: »In einem Wagen natürlich, verehrter Herr.«
»Herr, wenn Ihr die Räder entfernt, wäre es dann noch ein Wagen?«
»Ja, natürlich«, sagt Milinda ein wenig irritiert – er fragt sich, in welche Richtung das Gespräch geht.
»Und wenn Ihr den Rahmen oder die Fahnenstange oder das Joch oder die Zügel oder den Stachelstock entfernt, wäre es dann noch ein Wagen?«
Schließlich begreift Milinda. Er räumt ein, dass sein Wagen irgendwann kein Wagen mehr wäre, weil er die Qualität des Wagenseins verloren hat und die Aufgabe eines Wagens nicht mehr erfüllt.
Nun kann Nagasena sich einer hämischen Freude nicht mehr erwehren, denn Milinda hat nicht genau definiert, in welchem Sinn sein Wagen eigentlich existiert. Dann kommt die Pointe: »Eure Majestät haben gut über den Wagen gesprochen. Mit mir ist es das Gleiche … Diese Bezeichnung ›Nagasena‹ ist nur ein Name. In ihrer letzten Realität kann man diese Person nicht erfassen.«
Oder in moderner Sprache: Ich und all die komplizierten Dinge um mich herum existieren nur, weil viele Objekte exakt zusammengefügt wurden. Die »emergenten« Eigenschaften sind keine Magie. Es gibt sie tatsächlich, und am Ende verändern sie vielleicht sogar die Umwelt, die sie hervorgebracht hat. Aber sie existieren nicht »in« den Einzelteilen, aus denen sie hervorgegangen sind; sie erwachsen erst aus der sehr präzisen Anordnung dieser Einzelteile. Und das Gleiche gilt auch für die emergenten Gebilde, die wir »du« und »ich« nennen.
Dimitar D. Sasselov
Bezugsrahmen
Professor für Astronomie, Harvard University; Direktor der Harvard Origins of Life Initiative; Autor von The Life of Super-
Earths: How the Hunt for Alien Worlds and Artifcial Cells Will Revolutionize Life on Our Planet
Tiefgreifende, elegante Erklärungen betreffen natürliche oder gesellschaftliche Phänomene; der Beobachter hat in ihnen häufig keinen Platz. Als junger Student war ich fasziniert von der Frage, wie Bezugsrahmen funktionieren – d.h., ich wollte lernen, was es heißt, ein Beobachter zu sein.
Der Bezugsrahmen ist in Physik und Astronomie ein zentraler Begriff. Bei der Untersuchung von Strömungen beispielsweise greift man häufig auf zwei Grundformen des Rahmens zurück: In dem einen, dem Euler’schen Rahmen, wird die Strömung so beschrieben, wie sie sich durch den Raum bewegt; ein zweiter wird Lagrange-Rahmen genannt und bewegt sich mit der Strömung, wobei er sich dehnt und biegt. Die Bewegungsgleichungen in einem Euler’schen Rahmen schienen mir intuitiv auf der Hand zu liegen, aber begeistert war ich erst, als ich verstand, wie man die gleiche Strömung mit Gleichungen im Lagrange-Rahmen beschreiben kann.
Es ist wunderschön. Stellen wir uns einen Strom aus Wasser vor, einen gewundenen Fluss. Ich sitze auf einem Hügel am Flussufer und beobachte die Strömung des Wassers, die durch zahlreiche schwimmende Blätter deutlich gemacht wird. Die Flussufer und die Einzelheiten der Umgebung bilden ein natürliches Koordinatensystem, das einer geographischen Landkarte gleicht; man kann im Geist fast ein Bild aus festen, kreuzförmig verlaufenden Linien schaffen, also einen eigenen Bezugsrahmen. Die Strömung des Flusses bewegt sich durch diese feste Landkarte; dass wir die Windungen und Wendungen der Strömung und ihre veränderliche Geschwindigkeit beschreiben können, verdanken wir dem festgelegten Euler’schen Bezugsrahmen, der nach Leonhard Euler ( 1707 – 1783 ) benannt ist.
Wie sich allerdings herausstellt, kann man die Strömung ebenso erfolgreich beschreiben, wenn man nicht selbst auf einem Hügel steht, sondern sich in den Fluss fallen und stromabwärts treiben lässt, wobei man die wirbelnden Bewegungen der Blätter um sich herum beobachtet. Der Bezugsrahmen – er ist dieses Mal nach Joseph-Louis Lagrange (
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