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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Brechts »Dreigroschenoper« ist wegen revisionistischer
Tendenzen abgelehnt worden, er soll die Prüfung wiederholen, was er ablehnt. Seitdem wird seine Post abgefangen, und die Kopien werden in seiner Akte abgelegt.
    Es ist Thomas Brasch und seinen Freunden egal, was die anderen von ihnen halten. Sie haben schon vor der Okkupation den Mund aufgemacht, sich die freie Rede nie verbieten lassen, treffen sich am liebsten laut lästernd im »Espresso« in der Nähe der Humboldt-Universität. Sie geben sich keine Mühe, diese Diskussionen geheim zu halten.Von der Mutter seines Sohnes, Bettina Wegner, hat sich Brasch zwar getrennt, seit er mit der Studentin Sanda Weigl zusammenlebt, aber er kümmert sich um sie und das gemeinsame Kind. Die beiden Söhne des von seinem Lehrstuhl an der Humboldt-Universität verjagten Chemieprofessors Robert Havemann, Frank und Florian, achtzehn und sechzehn Jahre alt, gehören zum Freundeskreis, die Tochter der bekannten Bildhauerin Ingeborg Hunzinger, Rosita, und auch Erika Berthold, deren Vater Lothar Berthold das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED leitete. Die beiden Mädchen sind gerade achtzehn und damit strafmündig geworden. Einzig Hans-Jürgen Uszkoreit, ebenfalls achtzehn, ist schon mit der Schule fertig und arbeitet in einem Ostberliner Betrieb.
    Vom Ende des Prager Frühling erfahren sie durch den DDR-Rundfunk, der selbstverständlich die offiziellen Lügen verbreitete, wonach aufrechte Kommunisten in Prag die sozialistischen Brudervölker um Hilfe gegen die einheimischen Konterrevolutionäre gebeten hätten. Dieser dringenden Bitte um Beistand habe man sich nicht verschließen können. Natürlich glauben sie kein Wort. Gemeinsam produzieren sie bereits am 22. August 1968 fünfhundert Flugblätter, handschriftlich, denn sie können die ja nirgends drucken lassen, ohne denunziert zu werden, mit Biermanns Lied »In Prag ist Pariser Kommune«, aber auch mit dem einfachen, eingängigen historischen Vergleich »Hitler 1938 – Warschauer Pakt 1968« oder Parolen wie »Es lebe das tote Prag«. Manchmal schreiben sie auch nur den Namen des von den Besatzern verhafteten und anschließend nach Moskau verschleppten Hoffnungsträgers
DubcČek. Der Protest steht zudem als Graffito an Ostberliner Häuserwänden und wird, kaum entdeckt, von eilig abkommandierten Stasi-Putzkolonnen abgewaschen und übertüncht. Die Handzettel werfen Brasch und seine Freunde in Briefkästen oder legen sie in Telefonzellen. Kurz darauf werden sie verhaftet, und Bettina Wegner, 21, die trotz aller Warnungen die restlichen Flugblätter unters Volk gestreut hatte, erging es ebenso.
    Dem Volk allerdings ist egal, was passiert. Der später berühmte Theater- und Opernregisseur Adolf Dresen, auch so ein widerborstiger Wortmächtiger, auch er später in den Westen ausgereist, schrieb damals für seinen gleichaltrigen Freund Thomas ein Gedicht: »Als die Interventen in Prag einmarschierten/Verteilte Brasch am Prenzlauer Berg Flugblätter:/ Wollt ihr euch denn alles gefallen lassen? / Das Schlimme war nicht, daß sie ihn nach drei Tagen abholten / Das Schlimme war, daß er nach drei Tagen merkte, ja / Sie wollen sich alles gefallen lassen.«
    Eigentlich hatten sie keine Straftaten begangen, sondern nur ihr Recht in Anspruch genommen, sich an der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft aktiv zu beteiligen. Bei den Prozessen wurden sie bestraft wegen ihrer Meinung. Die Urteile: Thomas Brasch und Rosita Hunzinger je zwei Jahre und drei Monate Gefängnis, Sanda Weigl zwei Jahre, Erika Berthold ein Jahr und zehn Monate, Frank Havemann ein Jahr und sechs Monate, Hans-Jürgen Uszkoreit ein Jahr und drei Monate und Florian Havemann, der noch minderjährig war: Einweisung in ein staatliches Jugendhaus, ein Erziehungsheim. Bettina Wegner kam acht Tage nach ihrer Verhaftung wieder auf freien Fuß, durfte aber nicht mehr studieren, musste sich in der Produktion bewähren, wie es im brutalen Amtsdeutsch hieß.
    Die Strafen der anderen werden wenige Wochen später zur Bewährung ausgesetzt, was zurückzuführen sein dürfte auf die Berichterstattung über den Fall der Prominentenkinder im Westen und auf den letzten verbliebenen Einfluss ihrer Eltern. Braschs Vater Horst, der höchstselbst seinen Sohn bei der Stasi denunzierte, als der ihn um Hilfe bat, wird dennoch von allen Ämtern abgelöst.
    Als die letzten Pflänzchen aufgekeimter Hoffnung auf Veränderung endgültig zertreten, als Herbst und Winter

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