Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
gedemütigt.
Beim Festakt im Dresdner Rathaus zum Beispiel aber fand schon nicht mehr eine der üblichen sozialistischen Selbstbeweihräucherungen
statt, weil selbst die parteiamtlichen Ehrengäste wussten, dass der Sozialismus in seiner deutschen Form gescheitert war an der Wirklichkeit. Als Wolfgang Berghofer, der hinten in einer Ecke des Saales stand, obwohl er als Oberbürgermeister in der ersten Reihe sitzen sollte, gelangweilt den schweren Samtvorhang an einem Fenster beiseiteschob und rausschaute, konnte er auf der dunklen Straße einen Schweigemarsch des Volkes mit Tausenden von Teilnehmern sehen. Er drehte sich zu einem Mitarbeiter um und sagte leise: »Es ist vorbei.«
Hans Modrow, 1. Sekretär des SED-Parteibezirks Dresden, dürfte Berghofers Meinung geteilt haben, obwohl er es so deutlich erst viele Jahre nach der stillen Revolution in seinen Memoiren »Ich wollte ein neues Deutschland« aussprach. Als die DDR bereits unrettbar im Koma lag, beteuerten die Oberärzte Erich Mielke, Günter Mittag und Willi Stoph ja noch stur, die Patientin würde, Dornröschen gleich, jeden Moment wieder aufwachen. Anästhesist Egon Krenz nickte eilfertig und murmelte etwas von der bevorstehenden Wende. »Was störte da die Realität: ein Staat der hängenden Köpfe, der schweren Augenlider, der zugeschnürten Kehlen, der gelähmten Zungen, der gekrümmten Schultern«, schilderte Modrow, der selbst vierzig Jahre lang zum Führungspersonal gehört hatte, seinen damaligen Eindruck.
Damals jedoch sagte er nichts.
Sagt man.
Stimmt das?
Als früh um 6.30 Uhr am Morgen nach jener nicht autorisierten Entscheidung, sich mit den Demonstranten zu unterhalten, statt sie zu jagen, Berghofer den SED-Bezirkssekretär über alle Details des Deals informierte, hörte dieser schweigend zu und erteilte dann dem Oberbürgermeister das Mandat für weitere Verhandlungen. Der kam nach ein paar Stunden ins Modrow-Büro zurück, um vom Ablauf des Gesprächs zu berichten, und erlebte einen Wortwechsel zwischen Modrow und einem Mann, den Berghofer als Instrukteur aus Berlin ein-, zweimal bereits in anderen Situationen kennengelernt hatte.
So ganz genau kann er sich an den Wortlaut nicht mehr erinnern, aber auf jeden Fall hat Modrow dem Instrukteur ein Stück Papier zurückgegeben und sinngemäß gesagt, so könne man das nicht machen, und so werde er es auch nicht machen. Berghofer ist überzeugt davon, dass dies »der entscheidende Befehl war«, der mündliche, der letzte Schießbefehl, direkt von Erich Honecker.
Hans Modrow weiß zwar, dass in »Berlin auch eine Erwägung bestanden haben soll, bei größerer Zuspitzung einen Ausnahmezustand auszurufen«, wie er es heute vage und doch deutlich zugleich formuliert. Was er aber sicher weiß: »Der Instrukteur war in dieser Phase schon ein Mann voller Unsicherheit. Er übermittelte von oben und informierte nach oben, Einmischung und Kontrolle wie sonst vollzog er aber nicht mehr.«
Das wäre auch nicht sinnvoll gewesen, denn Modrow hat ihm in diesem Gespräch unmissverständlich klargemacht, dass er eine »Einmischung in meine Entscheidungen« nicht mehr hinnehmen werde, da »ich dafür die Verantwortung zu tragen hatte«. Er weiß jedoch nicht mehr, was genau er dem Instrukteur gesagt, oder gar, was der in Berlin seinen Vorgesetzten berichtet hat. Er wollte, wie der Genosse Oberbürgermeister, in Dresden eine »lebensbedrohende Katastrophe verhindern«, was ja dann auch gelang.
Der Instrukteur spricht auf Anfrage nicht darüber. Berghofer hat nie erfahren, ob wörtlich oder nur sinngemäß ein Befehl zum Schießen auf dem Papier stand, das der dabeihatte.Was auch daran liegt, dass die einst in der Diagnose des todkranken Patienten DDR einigen Genossen Berghofer und Modrow kein Wort mehr miteinander reden. Damals galten beide als Reformer, mit denen möglicherweise ein anderer Staat zu machen sein könnte. Der gelernte Schlosser und studierte Ökonom Dr. Modrow wurde der »gute Mensch von Dresden« genannt, der andere früh als »Bergatschow« tituliert.
Und heute?
Berghofer bezichtigt den Interimsministerpräsidenten der DDR bis zur ersten freien Wahl, inzwischen achtzig Jahre alt und treu den Idealen eines inzwischen demokratisch geläuterten Sozialismus
verbunden, der Feigheit und der Charakterlosigkeit. Er habe beim Prozess gegen Berghofer, der wegen Fälschung der Kommunalwahlen angeklagt war, das Unschuldslamm gespielt. Hat angeblich nichts davon gewusst, worüber Berghofer heute
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