Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Amtssitz von Rautenberg, ist gelegen im lieblichen Havelland, wo einst der Birnbaum des Herrn von Ribbeck zu Ribbeck im Garten stand, und der richtige Ort, sich nicht nur an das kulturelle Erbe der Nation zu erinnern, an Theodor Fontane zum Beispiel, sondern auch an die beiden unterschiedlichen deutschen Diktaturen. Hier haben die Großväter der heutigen Jungnazis zum ersten Mal eine Gaskammer erprobt für ihr Euthanasieprogramm, die Vernichtung von Menschen, deren Leben ihnen unwert schien, und insgesamt 9600 Menschen ermordet Im hiesigen Zuchthaus wurden 2700 Gegner des Hitlerregimes hingerichtet, und in dieser Haftanstalt wiederum, der übrigens größten in der DDR, haben Kommunisten ihre politischen Gefangenen eingesperrt.
Das Land Brandenburg, wo die Deutsche Volksunion (DVU) mit satten 6,1 Prozent im Parlament sitzt, gewählt von 71 045 Deutschen, wird auch von Neonazis aus dem nahen Berlin beackert. Die haben aus den zweistelligen Wahlerfolgen der Volkspartei PDS gelernt und deren Strategie adaptiert. Sie kümmern sich verstärkt um Alte, Kranke, Arbeitslose und bringen so wie nebenbei ihre Parolen an den Mann. Während die NPD-Biotope in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen hauptsächlich von Funktionären aus dem Westen gepflegt werden, waren die heute in Brandenburg aktiven rechtsextremen Parteisoldaten bis zum Umbruch ebenso treue Parteisoldaten auf der anderen Seite.
Und weil das so ist, kommt es dann vor Ort schon mal vor, dass sich alte Bekannte begegnen.Vertreter der damaligen Bürgerrechtler, die sich damals gegen den Staat zur Wehr setzten und heute den neuen Staat und seine Bürger gegen die Braunen zum Widerstand ermuntern, treffen dann auf die damaligen Staatsschützer, die heute das Volk gegen den Staat mobilisieren wollen. Die beiden Protagonisten in der folgenden Geschichte sind Wolfram Hülsemann und Detlef Appel.
Wolfram Hülsemann war bis April 2008 Leiter des »Mobilen Beratungsteams – Tolerantes Brandenburg«, später umständlich in »Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung« umbenannt, was seine Aufgabe eher vernebelt. Die demokratischen Einsatzgruppen machen nämlich genau das, was die Politiker stets verlangen. Sie werden für Präventivmaßnahmen eingesetzt, um Neonazis gar nicht erst die Chance zu geben, in den Gemeinden Fuß zu fassen. Brandenburg ist das erste Bundesland, das eine professionelle Beratung für Kommunen einrichtete und auch voll finanziert. Detlef Appel, Kreisvorsitzender der NPD Oberhavel, war in seinem früheren Leben Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR und im geeinten Deutschland problemlos von einem auf Führer ausgerichteten System ins nächste gewechselt.
Die Begegnung zwischen diesem speziellen Wendehals und dem evangelischen Theologen Hülsemann fand statt auf einem Marktplatz. Die Mahnwache dort, wogegen oder wofür, weiß
Hülsemann nicht mehr, auf jeden Fall nationaldeutsch, hielt Appel gemeinsam mit ein paar jungen Männern. Das ihn passierende Volk nahm ihn kaum zur Kenntnis. Hülsemann, der keine Angst kennt, verwickelte den ostdeutschen Landsmann in ein Gespräch und attackierte, umringt von sich stark fühlenden Jungmännern, dessen Weltbild.
Er scheut solche Konflikte nicht. »Die demokratischen Parteien müssen sich mit den sogenannten Wertvorstellungen der Neonazis auseinandersetzen und dürfen nicht aus Angst, die Bevölkerung wolle Harmonie, auf diese Auseinandersetzung lieber verzichten.Wir haben hier im Osten noch nicht die nötige Streitkultur, die sich bei euch im Westen über zwei Generationen besser entwickeln konnte. Fortbildung aber macht frei und immun im Kopf gegen braune Viren. So einfach ist das.« Als dem NPD-Mann, dessen Führer Udo Voigt den Holocaust relativiert – »sechs Millionen kann nicht stimmen, es können maximal 340 000 in Auschwitz umgekommen sein« -, was nach Paragraf 130 Strafgesetzbuch den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt, auf dem Marktplatz im Disput die Argumente ausgingen, flüchtete er sich ins Nebulöse. Langfristig würden sie, die Rechten, sich durchsetzen, das sei einfach gesetzmäßig.
Wie ist es geistig ja wohl ziemlich beschränkten Radikalen gelungen, sich derart in die Gesellschaft einzuschleichen? Hülsemann: »Wir beobachten in Teilen der Bevölkerung eine Art Bedürfnis nach Gewalt, insbesondere bei jungen Männern in ländlichen Regionen. Bei euch im Westen beginnt sofort ein großes Erschrecken, wenn Typen wie Schill ein gutes Wahlergebnis erzielen, das
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