Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
schwerer auszumachen. Sie tarnen sich mit Anzug, Krawatte, gepflegtem Haarschnitt und Höflichkeit. Sie pflegen Soldatenfriedhöfe und Denkmäler, was den Alten gefällt,
unterstützen alleinerziehende Mütter, helfen bei Behördengängen und dem Ausfüllen der Anträge auf ALG 1. »Die Schulen in Brandenburg haben wir größtenteils nazifrei gemacht, auch durch Information und Stärkung der Lehrer«, sagt Rautenberg, »doch die Schüler von einst sind jetzt an den Universitäten, die gehören zur künftigen Elite, die verbreiten dort ihr Gedankengut.«
Mein Gespräch mit Joachim Gauck fällt mir dabei ein, der mir erklärte, warum die im Osten trotz der großen Befreiung 1989 noch immer zu wenig von der Freiheit halten. Sie seien irgendwie deutscher als die im Westen. Nicht die nationale Heimattümelei samt kameradschaftlichem Gesang und Fackeln der üblichen Spießer, ob jung, ob alt, sei gefährlich, sondern dass zu viele Jugendliche meinten, die »rechte Mischpoke habe was zu bieten, was ihnen die anderen Parteien nicht bieten könnten«. Das macht ihm viel mehr Sorgen als die erkennbaren Schläger, denen man von Staats wegen Grenzen setzen könne, genauso wie Teilnahmslosigkeit oder Zuschauerhaltung der Normalen.
Eine Idee von Platzecks Stellvertreter Jörg Schönbohm, dem Innenminister von Brandenburg, wird inzwischen erfolgreich umgesetzt, sodass zumindest die absolute Zahl der Straftaten gesunken ist. Der konservative Demokrat hat jene schon erwähnte mobile Einsatztruppe von Polizisten aufgestellt, bestens ausgebildet, bestens ausgerüstet, die bei Aufmärschen der Neonazis innerhalb kurzer Zeit auftaucht und die Springerstiefelbanden aufmischt. Die überlegen es sich dann doch lieber zweimal, ob sie sich bei nächster Gelegenheit zusammenrotten, um Fremde zu klatschen, denn die Gefahr, dass »Angst und Schrecken« sie bereits erwartet, ist groß.
Dass inzwischen die blutrünstigen Wölfe im bürgerlichen Schafspelz gefährlicher sind, weiß auch Matthias Platzeck: »Als hier bei uns in der Staatskanzlei Tag der offenen Tür war, den wir allen Bürgern jedes Jahr anbieten, haben die sofort per E-Mail ihre Kampfgenossen aufgefordert, gut gekämmt und anständig angezogen zu erscheinen und sich dann lautstark breitzumachen.« Es wurde verhindert.
Die als Biedermänner getarnten Brandstifter versuchen in Freizeitclubs, bei Wahlen zu Elternbeiräten, bei der Feuerwehr, in Schützenvereinen Einfluss zu gewinnen und ihre Basis zu festigen. Finanzieren Kinderfeste, organisieren Fußballturniere oder Kinderbetreuung, um verstärkt Frauen für ihren Männerbund zu begeistern, ergreifen bei Bürgerversammlungen das Wort, was Neonazis »Wortergreifungsstrategie« nennen, und suggerieren so dem Volk, die Einzigen zu sein, die ihre Sorgen ernst nehmen, ihnen nah sind.Volksnah nennt man das.
Vor zehn Jahren noch war man sich unter Demokraten in der Strategie einig, die Rechten totzuschweigen, um mögliche Investoren für das nach Arbeit dürstende Land nicht gleich abzuschrecken. Diese Taktik scheiterte an der Wirklichkeit, denn die war bestimmt von Schlagzeilen über rechtsextremistische Gewalttaten, versehen mit den entsprechenden Bildern hasserfüllter Neonazitypen, nicht von ungefähr an die Großväter erinnernd, die einst zu Hitlers totschlagenden Banden gehörten. Da hatten sich Landespolitiker sogar noch beschwert, dass die Berliner Zeitungen groß über Schandtaten im braunen nahen Osten Brandenburg berichteten, statt im Schweigekartell zugunsten des Standorts mitzumachen.
Der damalige Ministerpräsident Manfred Stolpe bekannte, zu lange die Augen verschlossen und geglaubt zu haben, die Ausbrüche von Gewalt seien Folge der durch den Umbruch entstandenen Verunsicherung und Verwahrlosung und Entwurzelung und nicht etwa tief verankert in der Gesellschaft. »Ich lebte mit der Vorstellung, dass bei den jungen Leuten noch etwas hängen geblieben sein müsse von dem Antifaschismus und der Solidarität mit Menschen aus anderen Ländern, die an DDR-Schulen gelehrt wurden.«
Offenbar hatten die gemeinten Jugendlichen zu Hause etwas anderes gehört. Nicht unbedingt von ihren Vätern, die sich lieber darum bemühten, einen Job zu bekommen, und damit beschäftigt waren, ihre Familie in den neuen Zeiten durchzubringen. Eher von ihren Großvätern, die, geprägt von gleich zwei deutschen
Diktaturen, nie erfahren hatten, dass Demokratie keine arbeiterparadiesischen Zustände schafft, sondern dass sie täglich neu
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