... Wie Gespenster in der Nacht
hinaus. Die Straßenlaternen waren ausgegangen, die Fenster in allen Häusern blieben dunkel. Sie war mit Kerzen ausgestattet, für genau diesen Fall, doch sie zog es vor, keine davon anzuzünden. Die Dunkelheit machte ihr keine Angst, aber der Geruch von Rauch und Feuer könnte vielleicht wieder den Albtraum auslösen.
Als ein Klopfen an ihrer Tür ertönte, tastete sie sich vorsichtig durch den Raum. Sie erwartete, Mara vor der Schwelle stehen zu sehen, doch es war Andrew. Andrew, der nach Whisky roch. Andrew, der nichts war als ein dunkler, eindrucksvoller Schatten. Bevor sie etwas sagen konnte, hatte er schon die Hände auf ihre Schultern gelegt.
„Alles in Ordnung mit dir, Fiona?“
„Sicher. Was sollte denn nicht in Ordnung sein?“
„Ich dachte, du hast vielleicht Angst.“
„Dunkelheit hat mir noch nie etwas ausgemacht.“
„Ich hätte mir auf der Treppe fast den Hals gebrochen, hier im Dunkeln.“
„Dann solltest du wohl hereinkommen und es dir so lange gemütlich machen, bis der Strom wieder da ist. Der Weg zurück ist sicherlich noch gefährlicher.“ Sie trat beiseite, um ihn einzulassen. Erst schloss sie die Tür hinter ihm, dann griff sie nach seiner Hand. „Ich führe dich. Sei vorsichtig.“
Nachdem sie sicher den Raum durchquert hatten, ließen sie sich zusammen aufs Sofa fallen. „Du hörst dich schon viel besser an“, sagte sie. „Deine Heilkräfte müssen erstaunlich sein.“
„Das denke ich eher nicht.“
„Du fühlst dich also noch immer schlecht?“
Er antwortete nicht direkt. Ihre Hand hatte er losgelassen, sobald sie beim Sofa angekommen waren, und es war zu dunkel im Zimmer, um sein Gesicht zu sehen. Dennoch nahm Fiona seine Anwesenheit wahr, auf die seltsamste Art und Weise. Sie hatte das Gefühl, dass da eine Lücke in ihrem Leben gefüllt war, wo vorher nur Leere geherrscht hatte.
„Mir geht es gut, Fiona“, erwiderte er schließlich. „Aber ich fange gerade erst an zu begreifen, wie wenig ich mich bis jetzt erholt habe.“
„Ich verstehe nicht ganz.“
„Ich habe es auch nie verstanden. Bis heute Abend.“
Sie wartete darauf, dass er weitersprechen würde, doch vorerst breitete sich Schweigen aus. Als er dann wieder sprach, glaubte sie schon, er hätte das Thema gewechselt.
„Kannst du dich an meinen Vater erinnern, Fiona?“
„Nein, überhaupt nicht.“
„Weißt du nicht, dass er völlig hingerissen von dir war?
Wann immer er dir im Dorf begegnete, ist er mit dir wie mit einer süßen Porzellanpuppe umgegangen. Zu deinem dritten Geburtstag hat er einen kleinen Spazierstock mit einem Drachenkopf für dich geschnitzt. Mit dem hast du mir dann immer gegen die Beine geschlagen, wenn ich nicht tun wollte, was du von mir verlangt hast.“
Sie lachte hell auf. „Ich an deiner Stelle würde gar nicht mehr mit mir reden.“
„Aber da gab es auch noch eine andere Seite an meinem Vater.“
Sie drehte sich zu ihm und schaute ihn an. Mehr als eine schwarze Kontur gegen die weiße Wand des Zimmers konnte sie nicht von ihm erkennen. „Welche denn?“
„Er war Alkoholiker.“
Sie hatte dieses Wort nie vorher von Andrew gehört. „Ja, ich weiß.“
„Als ich vorhin die Treppe hochkam, musste ich mich an eine andere Nacht wie diese hier erinnern. Als ich noch klein war, ist der Strom öfter ausgefallen – meist allerdings, weil mein Dad kein Geld hatte, um die Stromrechnung zu bezahlen. Ohne Essen waren wir nicht so häufig, auch wenn das immer wieder mal vorkam. Meine Mutter hatte ihren großen Gemüsegarten, und wenn mein Dad nicht betrunken war, ging er fischen. Wenn dann am Ende des Winters kein Essen mehr in den Schränken zu finden war, hat meine Granny uns geholfen.“
Fiona war nie klar gewesen, wie hart Andrews Kindheit gewesen sein musste. Er war kein Mann, der klagte. „Was ist in jener Nacht passiert?“
„Damals in jener Nacht gab es weder Strom noch Essen. Das Telefon war schon lange abgestellt, und der Tank in unserem Auto seit Wochen leer. An dem Abend war auch der Vorrat an Torfbriketts aufgebraucht. Meine Mutter gab mir zum Abendessen eine Scheibe Brot mit dem Rest Honig, den sie aus dem letzten Glas gekratzt hatte, und brachte mich zu Bett, deckte mich mit mehreren Decken zu. Aber mir war dennoch zu kalt und ich hatte zu großen Hunger, um einschlafen zu können. Ich lag wach und hörte meine Eltern miteinander streiten.“
„Du erinnerst dich noch immer daran?“
„Aye. Ich erinnere mich, dass erst mein Dad zu weinen begann,
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