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... Wie Gespenster in der Nacht

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Titel: ... Wie Gespenster in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilie Richards
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noch vorwärts bewegte. Die Wellen schaukelten das Boot auf und ab. Andrew hielt das Steuerrad, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Schließlich war er zufrieden, dass er am richtigen Punkt angekommen war. Er hangelte sich an der Reling entlang bis zum Bug.
    Regen lief über sein Gesicht und seinen Hals, tropfte in seinen Nacken. Wasser spülte über Deck und seine Schuhe, als eisige Wellen gegen die Bootswand schlugen. Einmal wäre er fast ausgerutscht, doch verbissen klammerte er sich an das Geländer, aus Angst, die Flasche könnte in tausend Scherben zerspringen.
    Endlich kam er vorn an und keilte sich zwischen einen Sitz und die Bootswand ein. Er wusste, wie gefährlich das war; er könnte über Bord gespült werden. Kaum einer, der in das eiskalte Wasser des Loch Ceo gefallen war, bekam noch die Gelegenheit, davon zu berichten.
    Doch er stand sicher. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und holte die Flasche hervor – Brians Empfehlung. Der beste Whisky, den der Pub zu bieten hatte.
    Und Andrew hatte nur den Besten haben wollen.
    Regen lief in breiten Bahnen über die Flasche, fast rutschte sie Andrew aus den Fingern. Er fror, und seine Hände zitterten. Es dauerte fast eine volle Minute, bevor er den Verschluss fest genug zu fassen bekam, um ihn aufzudrehen. Der Deckel löste sich mit einem leisen Seufzer, fast so, als besäße der Whisky ein Eigenleben. Eine durchaus passende Vorstellung.
    „Ein Leben für ein Leben“, sagte Andrew laut.
    Ohne dass er es gewollt hätte, drängte sich ihm die Erinnerung auf an eine Nacht wie diese hier. Terence hatte ihn zum Fischen mitgenommen, ihn, den Teenager, in einem Alter, in dem man sowohl verletzlich wie auch feindselig war und vor allem von der eigenen Unsterblichkeit überzeugt. Doch der Whisky war ebenfalls auf dieser Bootsfahrt dabei gewesen, und fast hätten sie es nicht mehr lebend ans Ufer geschafft. Doch Andrew brachte das Boot irgendwann endlich zurück an den Steg, während sein Vater bewusstlos auf dem Deck lag. Seine Mutter hatte dort auf sie gewartet, bleich wie ein Gespenst vor lauter Angst. Sie hatte seinen schlaksigen Körper an sich gepresst und ihm das Versprechen abgenommen, nie wieder mit seinem Vater auf den See hinauszufahren.
    Sechs Monate später war Terence gestorben.
    Andrew musste nicht jung sterben. Er musste sich nicht den Rest seiner Tage fragen, ob er ebenfalls in dieser Hinsicht seinem Vater ähnelte. Wie Terence, so war auch er der Mann, den Gott geschaffen hatte. Und diesem Mann war wie jedem anderen Menschen auf der Welt ein freier Wille gegeben worden.
    Er nahm den Verschluss vom Flaschenhals und beugte sich vor. Das Boot schwankte gefährlich auf den Wellen, aber er bemerkte es kaum. Er hielt die Flasche über Kopf und sah zu, wie der teuerste Whisky des Pubs ins Wasser floss.
    Er war kein Alkoholiker. Noch nicht und auch nie, auch wenn er dann und wann einen Whisky trinken sollte. Doch nun brauchte er auch davor nie wieder Angst zu haben. Er würde sich nie mehr fragen müssen, ob er wie sein Vater viel zu weit gehen und dann nie wieder umkehren würde.
    Er besaß einen freien Willen und konnte wählen. Und er hatte seine Wahl getroffen.
    Er dachte an Fiona. Von Anfang an hatte er befürchtet, ihrer nicht wert zu sein. Er hatte sich nie zugetraut, ein liebender Ehemann und verantwortungsbewusster Vater sein zu können. Er hatte das Beste und das Schlechteste in Terence gesehen, und er hatte gedacht, er wäre genauso.
    Doch das war er nicht.
    Nass bis auf die Haut und zitternd vor Kälte stand er am Bug und starrte auf das Wasser des Sees hinunter. Irgendwann zog das Gewitter vorbei. Der Wellengang beruhigte sich, und die letzten Regentropfen fielen. Und noch immer stand er reglos da.
    Als Andrew endlich hinunter in die Kabine ging, hatte er nicht vor, gleich an Land zurückzukehren; er war einfach noch nicht so weit. Stattdessen holte er seinen Dudelsack hervor, der im sichersten und trockensten Schrank auf dem Boot verstaut war. Er stimmte die Pfeifen und spielte ein kurzes Stück zur Probe. Als er zufrieden war, ging er nach oben, stellte sich an die Reling und schloss die Lippen um das Blasrohr.
    Und dann begann er zu spielen.

15. KAPITEL
    S  eit der stürmischen Gewitternacht war jetzt mehr als eine Woche vergangen, und noch immer schien Fiona die klagende Melodie eines einsamen Dudelsacks durch ihr Fenster zu hören. Sie wusste nicht, warum der Wind die Musik ausgerechnet zu ihrem Zimmer getragen hatte,

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