Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
breiten, dichtbesiedelten Ebene — fruchtbar und sonnig. Welch ein Kontrast zu den letzten Tagen! Nein, hier brauche ich kein Regencape mehr, kann es in den nächsten Mülleimer werfen und meinen leichter gewordenen Rucksack zurechtruckeln. So fühlt es sich viel besser an, so kann ich leichter über die Erdhaufen an einer Baustelle steigen, leichter große Schritte machen — bis mich ein leichtes Knacken an meiner rechten Hüfte erstarren lässt.
Nein, das kann nicht sein.
Ich weiß was geschehen ist, bevor ich nachschaue, habe es irgendwie seit Wochen gefürchtet: der Rucksackgurt hat meine Kreditkarte in der Bundtasche meiner Hose in zwei Teile zerdrückt.
Ich fasse es nicht. Das kann nicht wirklich passiert sein.
Doch. Und jetzt stehe ich hier auf einem Kirchplatz, Samstags in Spanien, brüllend und trampelnd, und kann nicht glauben, dass ein Mensch so blöd sein kann wie ich, und bin stinksauer auf mich und möchte irgendjemand anderen beschimpfen und irgendjemand anderem die Schuld geben und niemand ist hier und ich steh hier allein, fast pleite und mit keiner Idee, auf welchem Wege ich zu Geld kommen kann. Mir ist zum Heulen. Was kann ich tun? Ich stampfe im Kreis herum und denke, aber meine Gedanken rotieren, ohne eine Lösung zu finden.
Bis mir mein Traum der letzten Nacht einfällt: ... ich hab alles verloren, auch meinen Anzug, ohne den ich den Camino nicht weiter gehen kann... und mir wird geholfen. Ziemlich witzig. Und? Wer hilft mir jetzt?
„Wo ist hier einer?“
Wie war das mit dem Vertrauen? Vielleicht sollte ich daran glauben, abwarten und die Dinge geschehen lassen. Was bleibt mir auch anderes übrig...
Trost gibt mir, dass meine lieben Beine mich die nächsten Stunden durch eine herrliche Landschaft tragen. Der Sandweg ist eben und von Feigen- und Nussbäumen beschattet, durchquert Dörfer, Weingärten und Felder mit Bohnen, Kohl und ungeheuren Mengen von Riesenkürbissen in allen Grün- und Grauschattierungen. Männer treten in Plastikwannen Saft aus Traubenbergen, andere pflügen Felder oder ernten. Alte Frauen nicken freundlich von ihren Bänken am Straßenrand, Hunde schnüffeln an mir, ohne zu bellen. Es könnte ein wunderschöner, idyllischer Nachmittag sein, doch ich bin schwer genervt, obwohl der erste Schock verflogen ist. Als ich in einem Dorf eine Bar sehe, und mir überlege, ob ich mir einen Espresso erlauben kann, beschließe ich, ja. Irgendeine Lösung werde ich finden müssen, werde mit meinen 40 Euro nicht bis nach Santiago kommen und schon gar nicht von dort nach Hause. Ich wage es einfach, lebe genauso wie vorher, es wird sich fügen.
Vielleicht habe ich Glück und treffe hier in Cacabelos einen Bekannten, der mir helfen kann. In der kilometerlangen Pilgergasse und ihren Nebenstraßen drängen sich Passanten, aber nirgendwo ist ein vertrautes Gesicht; nicht auf den vielen kleinen Plätzen, hinter keiner Ladenscheibe, in keinem Café, auch in der Herberge nicht. Schade, dass ich mich nicht richtig übers Ankommen freuen kann. Dabei bin ich so stolz, am zehnten Krankheitstag neunundzwanzig Kilometer gegangen zu sein! Auch die besonders schöne Architektur der Herberge würde mich normalerweise entzücken: Viele aneinander gereihte Zweierkabinen unter einem gemeinsamen Dach umschließen hufeisenförmig einen granitgepflasterten Platz mit einer Kirche in seiner Mitte. Eines dieser Zimmerchen beziehe ich allein, habe Leselampe, Schrank und weiches Bett und könnte mich augenblicklich hier wohlfühlen — wenn mein Kreditkartendilemma nicht wäre. Ich brauche Rat, doch niemand von all den Wäsche waschenden und essenden Menschen auf dem Platz zwischen Kirche und Häusern habe ich je gesehen, keiner, den ich anspreche, versteht mich. Nur die Hospitalera macht mir Mut: „Geh morgen nach Vega de Valcarce, dort ist mindestens eine Bank, vielleicht kann dir dort am Montag geholfen werden.“
Ich finde keine Ruhe. Muss wieder über die alte Brücke in den seltsamen Bauernort zurück. Laufe durch die Gassen, auf der Suche nach Trost für meine Sorgen und Belohnung für meine vielen Kilometer heute, finde ihn bei einem Bäcker mit einer Riesenauswahl Keksen, und kaufe mir gierig eine große Tüte gemischte, mit ganz viel Schokolade drauf.
Das hilft, langsam geht’s mir besser. Als ich sehe, dass in meiner Kirche eine Messe beginnt, gehe ich hinein, in einen Raum voller Frauen. Eine scheinbar homogene Menge; dunkel gekleidet in grau, blau, schwarz oder braun, gepflegt, geschminkt
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