Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
ändern: Alles, was ich geben möchte, werde ich zuallererst mir geben, Zärtlichkeit, Aufmerksamkeit und Achtung. Ich verspreche mir, mich von jetzt an jeden Morgen liebevoll zu begrüßen, mich zu streicheln, mir zu sagen, wie toll und schön ich mich finde und wie stolz ich auf mich bin; fange gleich damit an, spreche zu mir, streichle mir die Wangen und merke, wie gut es mir tut, liebe Worte von mir zu hören. Bin ich verrückt? Und wenn schon! Will ich mich nicht davon befreien, zu gefallen, und unabhängig von der Angst vor Ablehnung und Bewertung werden? Hier auf der Straße kann ich üben, bin allein und frei. Nur selten überholt mich ein Pilger, noch seltener fährt ein Auto vorbei, still liegen die mit Macchia und Heide bewachsenen Berge. Erst hinter einer Straßenkehre sehe ich wieder Zivilisation: die fruchtbare Landschaft El Bierzo und die Stadt Ponferrada, ganz weit unten. Welch wunderbarer Blick! Wohin ich mich auch drehe, ist es schön, schön, schön, schön, schön.
Der Weiler El Acebo, am Ende einer steil abfallenden Piste, ist ein Stück dieser Schönheit. Raue Steinhäuser, auf deren geschnitzten Holzbalkons Mais und Wäsche trocknen, stehen eng zusammen. Ihre dunklen Schieferdächer ragen weit in die malerischen Gassen. Rosen ranken an Fassaden, wackelige Außentreppen führen in die oberen Geschosse, es duftet nach Heu und Gemütlichkeit. Hier würde ich gern bleiben. Aber ich tue es nicht. Weil alle anderen weiter nach Molinaseca gehen, noch neun Kilometer, und ich eigentlich auch noch weiterkann. Trotz der achtzehn Kilometer bisher. Ich probiere es.
Und schaffe es nicht. Obwohl ich mich immer wieder hinsetze und auf den nachgiebigen Rand neben der Straße ausweiche, schmerzen meine Beine vom bergab laufen immer stärker. „Halt ein Auto an und lass dich runter fahren.“ Kristin und Christian sorgen sich schon wieder um mich. „Danke, ich geh nur noch bis Riego de Ambrós.“
Nun reicht es aber wirklich. Humpelnd öffne ich die riesige, schwere Tür zur Herberge in einem ehemaligen Palast, frage mich erneut, wieso es in diesen kleinen Dörfern solche prächtigen Gebäude gibt und bin überrascht, wie hell und modern dieses ist. Hospitalero Julio, ein Student, zeigt mir ein nettes ,Abteil’ mit vier Betten: „Du kannst hier allein schlafen, es wird heut nicht voll werden.“
Herrlich zu duschen, mich auszubreiten und zu erholen, doch ich habe Hunger und muss unbedingt Tee trinken. In der geheizten Küche übt Janet mit Julio spanische Vokabeln, ihren bandagierten Fuß auf dem Tisch. Zwei Tage wartet diese dynamische, englische Rentnerin hier schon auf Besserung ihrer Fußschmerzen, freut sich über weibliche Gesellschaft und vereinnahmt mich auf liebevolle Weise. Da hat Mona gerade noch gefehlt, die kurz nach mir eintrudelt, und uns mit dem Thema ,Männer und Frauen auf dem Camino’ aufs Köstlichste unterhält. Sie erzählt von einem Pilger, der jede auch nur annähernd in Frage kommende Frau fragte, ob sie nicht mit ihm eine Familie gründen wollte, und bald auf dem ganzen Camino bekannt war. „Es gibt eine Menge Leute, die hier unterwegs sind, um einen Partner zu finden. Erinnerst du dich an die Mexikanerin in der Bar hinter León? Sie erzählte mir, dass sie einen Mann zum Heiraten finden möchte und in Spanien bleiben will. Und dann gibt es auch ganz viele, die jemanden für eine Nacht suchen.“ Janet schaut entsetzt über ihren Brillenrand. „Was, das gibt es?“ Mona lässt sich nicht aufhalten uns aufzuklären: „Klar, das ist doch so, wie sich zu einem Tennismatch verabreden.“ Es dauert nur Sekunden, bis wir kreischen wie pubertierende Girlies und uns jede Menge Unsinn einfallen lassen, wenn wir zwischen unserem Gekicher Luft zum Reden finden. Ach Mona, du bist zu verrückt! Die Gesichter hinzukommender Männer, die uns ansehen, als wären wir irre, machen alles nur noch schlimmer: wir lachen bis uns die Bäuche wehtun und ich Angst kriege, mir in die Hose zu pinkeln.
Vielleicht stimmt, was Mona sagt. Heute sah ich an einem Busch über dem Weg eine durchsichtige Plastiktüte mit einem gelben Brief ,von Jana/Netherland an John/GB’ hängen. Und rennt nicht auch Eric herum, um eine Frau zu finden? Überall in der Welt haben die Menschen Sehnsucht nach Beziehung und suchen Kontakt, natürlich auch hier. Will nicht jeder zu jemandem gehören? Janet beneidet mich, dass zu Hause jemand auf mich wartet: „Es muss schön sein, für einen Mann sorgen zu können.“
Ja, es
Weitere Kostenlose Bücher