Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
abzuladen...
Ich habe mich entschieden, die meinen mit nach Santiago zu nehmen. Hier, schön nah am Himmel, will ich meine Lasten und Wünsche ablegen, mit meinen vier Steinen, die ich unterwegs gesammelt habe: Einen kleinen, weißen Kiesel für meine Hoffnung, Zufriedenheit zu finden; einen rosafarbenen Quarz mit einem Sprung in der Mitte für die Illusionen, die so schön sind, doch mich immer wieder in die Irre leiten; ein abgebrochenes Stück roten Granit für mein Leben, weil es ein Teil eines festen, schönen Ganzen ist und ein helles Steinherz für mein ,steinernes Herz’, das in den letzten Jahren mehr und mehr mein Fühlen ersetzt hat. Ergreifend ist es, fast ein bisschen heilig — und unterhaltsam, was hier alles liegt! Wer hat wohl diese Riesenbrocken hier raufgeschleppt? Viele Steine sind beschrieben oder bemalt, sogar Fahrradteile, Kleidungsstücke, Tücher und Briefe liegen um den Stamm oder stecken in seinen Ritzen. Schade, dass so großer Andrang herrscht und ich Platz für die nächsten Wartenden machen muss, Radfahrer in kurzen Hosen und dünnen Shirts, die sich steif gefroren von ihren Rädern mühen, sich ein bisschen warm zappeln und zitternd vor Kälte hinauflaufen. Die Armen tun mir Leid. Immer noch ist es neblig und nass und weht eisiger Wind, und ich friere, obwohl ich alle meine Kleidungstücke übereinander trage und meine Wollsocken als Handschuhe. Doch diese jungen Männer scheinen zur Sorte Merknix zu gehören, springen wieder auf die Räder und jagen johlend ohne Sicht bergab.
Ich werde mich zu anderen Wanderern in den Windschatten der kleinen Kapelle setzen, mich am heißen Tee aus meiner Trinkflasche aufwärmen, Nüsse essen und noch ein bisschen ergriffen sein.
Klappt nicht. Meine Gedanken kreisen einzig um das köstliche, saftige Brot, das der Hospitalero mir heute Morgen zum Mitnehmen angeboten hat. Wie dumm, es abzulehnen! Und nun verschenkt auch noch ein Spanier direkt vor meiner Nase Schokolade an Kristin und Christian, und ich kriege nichts ab und bin neidisch beim Zuschauen. Na ja, ein Pilger muss dankbar und zufrieden sein, mit dem was er hat...
Eigentlich bin ich erschöpft, doch mein Herz ist plötzlich ganz leicht, als hätte es sich umgehend entsteinert, und ich muss wieder singen. Melodien und Lieder quellen aus meinem Bauch während ich locker bergab und auch wieder ein bisschen bergauf gehe, dann höre ich Hunde bellen, sehe Gänse herumlaufen und stehe unvermittelt in Manjarín. Vor dem berühmten Anwesen von Tomás, einem Pilger, der 1993 in den Ruinen dieses verlassenen Dorfes eine Herberge errichtet hat, über die jeder auf dem Camino spricht. Genial, wie es hier aussieht! Schilder und Gerümpel lenken zum größten der halbfertig aussehenden Gebäude und ein junger Souvenirverkäufer lädt mich ein hineinzugehen: „Stell deinen Rucksack hier ab und wärm dich auf.“ Will ich? Es soll hier Café geben und der Schornstein raucht — also rein, in den düsteren Küche-Ess-Schlaf-Raum, an einen bollerigen Ofen. Ich setze mich zu einigen Bekannten, froh über die Wärme, aber fassungslos über diesen rumpeligen, schmuddeligen Platz. Unsäglich. Hinter mir ist so etwas wie eine Bibliothek und um die Ecke ein Andachtsraum mit Heiligenbildern im Kerzenlicht. Auf dem Herd dampft ein Kessel, ein junger Mann wäscht riesige rußige Töpfe ab und Tomás wandert herum, ohne uns zur Kenntnis zu nehmen. Wie er sich wohl fühlt? Seit zehn Jahren lädt er Menschen in sein Haus, gibt Obdach, Nahrung, Wärme und Unterhaltung. Was bekommt er zurück? Woher nimmt er die Energie für so viel Liebe? Hans erzählt, dass Tomás in der Tradition der Templer lebt. Gibt ihm das die Kraft? Aber wo ist die Aura, die Atmosphäre, die ich hier erwartet habe? Ich fühle mich unbehaglich, verabschiede mich bald und wandere weiter ins Tal hinunter, werde wieder weich, offen und fröhlich. Rundherum reißen die Wolken auf und geben eine herzbewegende Sicht über die gestaffelten, grünen Bergketten frei. Die Vögel singen wieder und die Natur scheint lebendig, doch da liegt vor mir ein mehr als handgroßer, grau-roter Frosch auf der Straße, als würde er schlafen. Bäuchlings, den linken Arm unter der Brust, die Zunge aus dem riesigen Maul hängend. Er ist tot.
Meine Gedanken beginnen um das Leben zu kreisen, um mein Leben. Warum fällt es mir so schwer, mich zu lieben, für mich zu sorgen? Warum gebe ich meine Zuwendung und Liebe anderen und beachte mich so wenig? Das will und muss ich
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