Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
nussigen Geschmack. So viel pralle Natur, wenige Meter neben all dem Beton! Vor einem Holzstapel sitzt eine fingerlange, rotgraue Gottesanbeterin in der Form eines Zweiges, lässt sich nicht stören, ist einfach nur da. Und ich Mensch? Sorge mich um Geld und Essen und saubere Socken.
Pereje, eines der altmodischen Straßendörfer am Berghang, hat eine Bar mit einem Telefon. Endlich eine Gelegenheit Max anzurufen, ihm von meiner Not zu erzählen und vielleicht Trost zu bekommen. Er reagiert wie ich es erwarte: „Mach dir keine Sorgen, es wird schon eine Lösung geben, wenn gar nichts geht, komm ich und bring dir Geld.“ Ach, er ist lieb wie immer, geduldig und gütig. Ich könnte glücklich sein, habe jemanden, der sich kümmert und sorgt, aber er strengt mich auch an. Mit seinem Jasagen, dass ich schwer aushalte. Weil ich nie sicher bin, ob es ein Kompromiss ist, hinter dem Unzufriedenheit Aggression ausbrütet, die irgendwann unerwartet über mich hereinbricht. Doch jetzt will ich das Gute nicht zudecken und dankbar für sein Angebot sein. Wenn ich ihn bitten würde, wäre er morgen hier. Aber das will ich nicht und meine Anspannung bleibt.
„Hola, Hans.“ Im nächsten Ort lacht er mir von seinem Rastplatz zu. „Schön dich wieder zu treffen, hast du Mona gesehen?“ Zwei Wochen sind die beiden miteinander gewandert, bis sie sich hinter Manjarín ohne Abschied aus den Augen verloren haben. „Nein, ich weiß auch nicht, wo sie ist. So ist der Camino, man trifft sich und muss sich wieder loslassen. Komm, lauf mit mir weiter.“ Hans kommt eben von den Bergen herunter und erzählt begeistert von den herrlichen Ausblicken dort oben. Redet und redet. Über sich und sein Leben, seine Reisen und seine Familie. Und dass er sich im Moment ziemlich genervt fühlt. Eingeengt, durch die liebevolle Fürsorge seiner Frau, mit der er vorhin telefoniert hat. „Sie macht sich meiner Meinung nach zu viel Sorgen um mich.“ Ich kann ihn verstehen, kenne dieses Unbehagen und die Schuldgefühle, wenn es meinem Mann meinetwegen nicht gut geht. Wir sollten lernen, dem anderen die Verantwortung für sein Fühlen und Handeln zu lassen, damit wir uns bei aller Nähe und Verbundenheit in unseren Beziehungen frei fühlen können. Weil Freiheit so wunderbar ist.
Das Tal wird weiter und heller, doch noch immer sind die Autobahntrassen über uns und scheinen Vega de Valcarce in seinem gewundenen Flusstal mit ihren massigen Betonstelzen zu erdrücken. Ich bin am Ziel. Hans geht weiter, nicht ohne mir Glück bei meinen Bankgeschäften zu wünschen. Der Ortskern umlagert den Fluss zwischen beackerten Hängen, die Herberge ist mittendrin, doch bevor ich hinaufgehe, muss ich schauen, ob es eine Bank gibt. Es gibt drei, das sollte reichen, jetzt kann ich ruhiger morgen früh abwarten.
Und dann ist da eine kleine Kirche, deren Tür einladend offen steht: Ein fröhlicher, hellblauer Raum mit einem Sternenhimmel als Decke, von dem das Auge Gottes auf mich herabschaut. Was er wohl über mich denkt? Vorne liegt ein Besucherbuch mit vielen Texten. Ich lese die Worte Fremder und schreibe hinein, was mir aus dem Herzen quillt, damit später Fremde meine Worte lesen können, bin danach erleichtert und froh.
Bis ich die Herberge betrete. Sie ist schaurig, besteht aus zwei zusammengestellten Betongebäuden, mit einer Durchgangsküche in einem offenen Treppenhaus. Die beiden Schlafsäle sind groß und ungemütlich, im einzigen kleinen Zimmer hat sich ein Ehepaar eingerichtet. Ich will sie nicht stören und laufe unschlüssig zwischen den hässlichen, unsauberen Räumen hin und her, wähle den mit den augenscheinlich sympathischeren Schlafgenossen, suche eine Matratze, die nur wenig stinkt, und ein Kissen, das nicht ganz schmutzig ist, finde mich widerstrebend ab.
Der herrliche Blick von der Küchenterrasse auf die Burgruine Sarracín über dem Ort und die Sonnenstrahlen auf meiner Nase hellen meine Stimmung auf. Ich werde mein Tagebuch holen, um zu schreiben. Auf diesem Stuhl in der Abendsonne. Es dauert nur eine Minute, bis ich zurück bin, doch die hat dem unsympathischen Spanier genügt: Er hockt groß und breit auf meinem Platz. Weil auf allen anderen Stühlen seine dreckige Kleidung zum Lüften hängt und liegt. Und ich stehe da, stumm wie immer, wenn mir so viel rücksichtslose Dreistigkeit begegnet. Und ärgere mich über mich, weil ich mich nicht zur Wehr setze.
Stattdessen koche ich meine Tütennudelsuppe mit dem Rest Tortilla von heute
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