Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
verkörpert.
Die Situation ist unwirklich und unfassbar.
Nach einem letzten Gebet verlasse ich das mittlerweile fast leere Gotteshaus. Ich kann nicht mehr —
Dann stehe ich auf der dunklen, regennassen Straße. Wo kann ich jetzt hin? Eine Gruppe Frauen unter Regenschirmen geht vorbei. Ich spreche sie an, frage nach einem Hotel, einer Pension. Eine von ihnen nimmt mich an die Hand, spricht spanisch auf mich ein, bringt mich zur nächsten Straßenecke und zeigt in eine enge Gasse. Unsicher gehe ich in die leere Dunkelheit. Ein älteres Paar fragt mich auf Englisch: „Wohin wollen Sie?“ Ich zucke die Schultern, „In ein Hotel“. „Kommen Sie mit zu unserer Pension, vielleicht ist dort ein Zimmer frei.“ Es sind nur ein paar Schritte bis zu einer hellen, warmen Gaststube. „Buonas noches, hay una cama para mí?“ Der Wirt nickt: „Kommen Sie mit“, und zeigt mir ein kleines Zimmer im zweiten Stock. Ja, das gefällt mir, doch jetzt brauche ich ein Bier, muss noch einmal hinunter in die Gaststube, und schier hysterisch durch all die übermächtigen Gefühle überfalle ich das freundliche Paar von vorhin mit dem Wunsch, sie umarmen zu dürfen, will meine Freude teilen, dass ich nach 40 Tagen angekommen bin. Und diese wunderbaren Menschen, die mich lange in ihren Armen halten und mir wünschen „nimm dir Zeit, zu verstehen, was mit dir passiert ist“, schenken mir Aufmerksamkeit und Liebe, obwohl sie keine Pilger, sondern Autotouristen sind, fragen und hören zu, und ich antworte, rauche, trinke Bier, esse vom Wirt geschenkte Linsensuppe, bin aufgedreht und übermütig, bis mir alles zu viel wird und ich nur noch Ruhe möchte.
Ich habe ein Zimmer für mich allein. Ein schönes Bett. Muss nie mehr meinen Schlafsack auspacken. Muss nicht mehr weitergehen. Muss nie mehr gehen! Mein Gott, bin ich froh! Aber ich kann nicht schlafen, alles in mir ist in Bewegung. Nach einer Stunde hole ich meine Schlafmatte, dann meinen Schlafsack, richte mir mein gewohntes Lager, lege die kribbelnden Beine an der Wand hoch, mache Entspannungsübungen.
Irgendwann gegen Morgen schlafe ich ein.
Santiago de Compostela
Santiago. Ich erwache in Santiago. Es ist also wahr. Ich bin am Ziel meiner langen Reise.
Benommen und müde versuche ich, zu mir zu kommen.
Ich liege in einem richtigen Bett, es ist neun Uhr und ich kann liegen bleiben, so lange ich mag, muss nicht packen, muss nichts. Ich werde zu Hause anrufen, meine Pilgerurkunde holen und um zwölf Uhr in die Pilgermesse gehen. Sonst nichts. Ich brauche nichts mehr zu tun.
Frohen Herzens trete ich auf die Straße, finde ein Telefon, sprudele überschwänglich „Ich habe es geschafft“ in den Hörer — und bin schlagartig wieder in der Realität. „Meine Mutter hat Krebs, sie wird morgen operiert. Eigentlich wollte ich dir das gar nicht erzählen, aber vielleicht kannst du für sie beten.“ Batsch. Augenblicklich falle ich von meiner Wolke. Wo sind Mitfreude und Anteilnahme? Warum macht er das? Warum lässt er nicht meiner Freude ihren Raum? Zwar tut mir meine Schwiegermutter Leid, doch dies sollte nur mein Moment sein. „Muss ich denn jetzt gleich zurückkommen?“ Erschrocken und unsicher erwarte ich Max’ Urteil. „Nein, lass dir die Zeit, die du brauchst.“ Na, wenigstens das.
Bedrückt suche ich den Weg ins Pilgerbüro. Die Sonne scheint über der grauen Stadt und die erste Bar auf meinem Weg liegt wunderschön zwischen Kathedrale und einem Kloster, oberhalb einer mächtigen Treppe, über einem Platz. Hier bleibe ich zum Frühstücken und beschließe, mir die Freude über meine Ankunft nicht trüben zu lassen.
Tatsächlich wird sie größer, denn als ich der jungen, lächelnden Frau im Pilgerbüro mein voll gestempeltes Credencial über den hohen Tresen reiche, ist das einer der aufregendsten Momente meines Lebens; und als sie mir meine Pilgerurkunde Compostela gibt, platze ich fast vor Stolz, trage das Papier blöde lächelnd vor mir her nach draußen. Ich habe eine Großtat vollbracht! Schade, dass ich den lateinischen Text nicht lesen kann, nur meinen ulkig klingenden, latinisierten Namen ,Ioannam Eleonoram’.
Traurig, dass niemand hier ist, der sich mit mir freut. Plötzlich fühle ich mich verloren, habe Sehnsucht nach vertrauten Menschen, möchte gerade nicht allein sein; trete halb glücklich, halb traurig aus dem alten Palast auf die schmale, zwischen hohe, graue Häuser eingezwängte Gasse ins Touristengewusel — und stehe unvermittelt vor Kristin
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