Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
ich schreie zu den Baumwipfeln, als wäre sie dort oben: „Mama, warum war ich dir nie wichtiger, warum fühle ich mich heute noch nicht genug geliebt von dir, warum durfte ich nicht sein, wie ich bin und warum konntest du mich nicht beschützen?“
Ich hasse sie. Ich hasse sie beide so sehr in diesem Moment, wie ich es nie für möglich gehalten habe. Ja, ich darf hier im Wald brüllen und weinen und meine Eltern hassen, weil sie mein Leben geprägt haben und ich keine Chance hatte, irgendetwas anderes zu tun, als das zu suchen, was ich mir so sehr wünschte. Anerkennung als Mensch und weibliches Wesen, und mich angenommen fühlen als liebendes und geliebtes Kind. Darum hatte ich keine Freiheit der Wahl meiner Lebensform, war abhängig und ohne Reflexion für andere Wünsche und Bedürfnisse, musste alles tun, um geliebt zu werden und meine Sehnsucht nach einer heilen Welt zu stillen, nach einem glücklichen Familienleben. Ohne zu wissen, was es ist. Konnte nur scheitern. Und dafür hasse ich sie, ich das Opfer, die Angepasste. Oh, mein Gott, wie grauenvoll ist das, all den Schatten meiner Kindheit zu begegnen. Ich hasse sie so sehr. Und verstehe von Minute zu Minute mehr, warum ich in meinem Leben bis heute so und nicht anders gehandelt habe, und weine und weine. Aus Selbstmitleid.
Und nicht nur das Verstehen um die Dinge ist wichtig, sondern das Fühlen. Ich erlaube mir meine verschütteten Gefühle — Wut und Hass und Traurigkeit — das ist die wirklich ungeheuerliche Dimension. Ich nehme mich wichtig genug, um fühlen zu dürfen. Endlich. Ich darf um mich weinen, lasse es geschehen, bin verzweifelt und froh, beschönige nichts mehr, nehme niemanden in Schutz, weine um mich.
Erschöpft taumele ich weiter, doch immer wieder steigt Wut in mir hoch und ich schreie, weine und trete gegen Bäume. Setze mich abseits des Weges, denke über das gerade Erlebte nach und habe keinen Zweifel, dass dieses Erkennen und das Wiederfinden meiner Gefühle der Sinn meines Caminos ist.
Erst als ich offensichtlich keine Träne mehr in mir habe, gehe ich widerwillig weiter, biege ungern zur Herberge in Pedrouzo ab, möchte niemandem begegnen. Doch irgendwo muss ich heute bleiben, spiele die Unbekümmerte, dusche, suche mir ein Bett. „Bei Rainer ist noch was frei, er wird sich freuen, wenn du in seiner Nähe schläfst.“ Frolian neckt mich wieder, und jetzt verstehe ich, dass Rainer in Hospital da Condesa meinetwegen auf dem Fußboden geschlafen hat, um meinem Erkältungsgeröchel und — schnarchen zu entgehen, muss grinsen, obwohl mir überhaupt nicht danach zu Mute ist. Leihe mir Nähzeug von Lothar, um meinen Schlafsack zu reparieren, beschäftige mich, lenke mich ab. Doch das nützt nichts, alles in mir ist aufgewühlt, mein Denken kreist um meine Traurigkeit und meine Eltern.
Ich verkrieche mich in mein Bett, finde keine Ruhe, in mir drängt es weiter. Ich möchte nach Santiago, will dem Heiligen Jakobus meine Sorgen und mein Leid, ,mein Paket’, in dem Erkennen und Verstehen zusammengezurrt sind, bringen, springe wieder auf, koche mir Tee. Unruhig sitze ich in der leeren, großen Küche. Kann ich weitergehen? Noch mal 22 Kilometer oder mehr? Es ist 16 Uhr. Egal, ich muss los, habe keine Wahl, es zieht mich. Ich stopfe meinen Rucksack wieder und verlasse das Haus.
In schnellem Schritt stürme ich in die Bar nebenan, stürze einen doppelten Espresso herunter, kaufe Zigaretten und dann vorwärts. Ich spüre meinen Körper nicht, fühle keine Müdigkeit oder Erschöpfung, laufe wie noch nie. Es geht leicht. Ich will nach Santiago! Will ich? Nein, das bin nicht ich, die will. Ich muss einfach gehen, muss ,mein Paket’ abliefern und bitte Gott, mir zu helfen, dass ich es heute noch ablegen kann.
Ich bin wie betäubt, meine Traurigkeit weicht einer hohen Anspannung. Dörfer, Straßen und Wälder durchlaufe ich, halte auch bergauf mein Tempo durch, bleibe nur bei starker Mattigkeit kurz stehen, um zu rauchen, kann es nicht abwarten anzukommen. Es beginnt zu regnen. Macht nichts, ich haste im T-Shirt weiter, will den Regen auf der Haut spüren, die Kühle, die zu Kälte wird, ziehe meine Jacke erst an, als ich durchnässt bin.
Ein Schild weist auf den Monte do Gozo hin, den ,Berg der Freude“, von dem aus das erste Mal Santiago de Compostela zu sehen sein wird, doch erst passiere ich Gehöfte und Villen mit bewachsenen Gartenmauern, pflücke eine Blütendolde von einer grünen Kletterhortensie und vom Zaun gegenüber
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