Wie ich Rabbinerin wurde
einen Tisch. Dann sieht er mich an: »Du kannst jetzt die
Bracha
sagen.« Ich weiche einen Schritt zurück. Religiöse Rituale in der Öffentlichkeit auszuüben, auch wenn es nur der winzige Segen über die Kerzen ist, den die jüdischen Frauen traditionell zu Beginn des Schabbat sagen, überfordert mich immer noch. »Kann das nicht eine der vielen anderen Frauen hier machen?«, frage ich. Heinz Rothholz verneint. »Du bist das einzige jüdische Mädchen hier.« Auf meine Frage, wer die anderen Frauen seien, erwidert er: »Das sind alles Christinnen, die sich für das Judentum interessieren.« Im Gottesdienst sei heute wahrscheinlich nicht einmal ein
Minjan
gewesen.
Jetzt verstehe ich die protestantische Atmosphäre.
Teilweise, aber nicht in diesem Ausmaß ist mir die mitunter distanzlose Begeisterung vieler Christen für das Judentum schon im Westen aufgefallen. Lara Dämmig würde mir später erklären, dass damals zusätzlich zu den vielen christlichen Zaungästen noch zahlreiche Journalisten aus dem Westen anwesend waren. Sie schreiben anschließend Reportagen über das jüdische Leben in der DDR und geben den wenigen Judenschnell das Gefühl, zu einer besonderen Spezies zu gehören, die man wie im Zoo ungeniert beobachten könne. Daher ihre Abwehr, als ich sie frage, ob ich in ihren
Sidur
mit hineinsehen darf.
Der Abend wird trotzdem zu einem jüdischen Erlebnis. Nach und nach treten andere Menschen in den Gesellschaftsraum ein. An der Wand hängt eine Ankündigung für diesen
Oneg Schabbat.
Doch die Leute kommen zum Teil viel später als zur auf der Ankündigung angegebenen Uhrzeit. So kenne ich es auch von den Juden im Westen. Niemand von den Hereintretenden ist im Gottesdienst gewesen. Sie sind um die 40 Jahre alt. Wie ich ihren Gesprächen entnehme, sind unter ihnen Liedermacher, Musiker, mehrere Schriftsteller, Publizisten, Philosophen, Juristen, Historiker und ein Fotograf. Es ist die von Irene Runge gegründete Gruppe »Wir für uns«, die sich an diesem Abend in der Gemeinde trifft. Und wie ich im weiteren Verlauf des Abends erfahren werde, sind es die Kinder von jüdischen Kommunisten – deutschen Juden also –, die sich nach dem Krieg bewusst dafür entschieden haben, den Sozialismus in der DDR mit aufzubauen. Fast niemand hier ist Mitglied der Gemeinde. Doch allen ist es wichtig, ihrer jüdischen Herkunft wieder mehr Bedeutung zu verleihen.
Kantor Oljean Ingster wird an diesem Abend dem Publikum vorgestellt. Heinz Rothholz macht die Einführung: »Mit vier beherrschte er die hebräische Sprache! Mit fünf begann er mit dem Torastudium!« Ingster reagiert ungehalten: »Das ist doch uninteressant. Das war damals so üblich. Reden wir lieber über etwas, was diese Leute hier interessiert.« Er fordert das Publikum auf, Fragen zu stellen. Ein Mann bittet Ingster zu erzählen, wie er den Faschismus, die Zeit in Auschwitz und den Todesmarsch überlebt habe. Die Frage berührt mich, aber zugleich enttäuscht mich, dass sich das Publikum ausschließlich für die N S-Zeit interessiert – wenngleich dies verständlich ist, hat doch die DDR den Mord an den Juden verschwiegen und in ihrem Geschichtsbild nur die Verfolgung des antifaschistischen Widerstandes gelten lassen. Entsprechend herrscht unter denOstberliner Juden ein großer emotionaler Nachholbedarf, die
Schoa
ins Bewusstsein zurückzuholen. Ingster wird an diesem Abend jedoch nicht gefragt, was ihm die jüdische Tradition bedeutet, welchen Halt sie ihm auch noch nach Auschwitz gibt, warum er jahrzehntelang in einem sozialistischen Staat Gottesdienste hält – und was er damit den anderen weitergibt.
Nicht lange vorher hat der Staatsrat der DDR beschlossen, die Beziehung zu den Juden zu verbessern. Dies dient einer abstrusen Strategie mit antisemitischem Einschlag. Eigentlich will der Staatsrat Kontakte zur jüdischen Lobby in den USA. Davon verspricht er sich einen Zugang zum Weißen Haus, was den sich abzeichnenden wirtschaftlichen Zusammenbruch des SE D-Staates abwenden soll. Im Rahmen dieser Strategie wird die Restaurierung der Neuen Synagoge beschlossen, wird Heinz Galinski, der inzwischen Vorsitzender des
Zentralrates der Juden in Deutschland
ist, zu einem Treffen mit Erich Honecker nach Ostberlin eingeladen und erhält 1988 der Präsident des
World Jewish Congress
, Edgar Bronfman, den Orden »Großer Stern der Völkerfreundschaft«. Untermalt wird diese Strategie mit der Stärkung des jüdischen Lebens in der DDR, das
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