Wie ich Rabbinerin wurde
aber ich würde mir ohne Kenntnisse ein Urteil anmaßen. Ich verstehe nicht, was sie so aufregt, beherrscht sie doch selbst nicht einmal Hebräisch.
An einem Freitagabend im Winter 1987 sitze ich zum ersten Mal selbst neben Onkel Ludi in der
Congregation Habonim
in Manhattan. Die älteren Menschen sprechen Englisch mit einem teilweise sehr starken deutschen Akzent. Ludi, der offensichtlich eine tragende Säule in dieser Gemeinde ist, grüßt manche der Hereinströmenden und lässt mich die Städte wissen, in denen sie vor ihrer Flucht aus Deutschland gelebt haben – Fürth, Bamberg, Heilbronn, Offenbach, Dortmund, Hannover … Der
Temple
füllt sich bis auf den letzten Platz. Es gibt keine Frauengalerie. Männer und Frauen sitzen zusammen. Es kommen auch viele junge Menschen. Manche Frauen tragen eine Kopfbedeckung – aber nicht die Hüte und durchsichtigen Seidentücher, mit denen die orthodoxen verheirateten Frauen ihre Haare bedecken, sondern bunt bestickte, Fez-ähnliche Käppchen, die offensichtlich dieselbe Funktion haben wie die
Kippa
der neben ihnen sitzenden Männer. Eine derart gut besuchte Synagoge an einem ganz normalen Freitagabend habe ich in Deutschland noch nie erlebt. Ludi, der auch Artikel für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung
Aufbau
schreibt, lässt mich wissen, dass er ein begeisterter »Reformjude« sei. Für ihn könnten die Veränderungen der traditionellen Liturgie zugunsten einer modernen Auffassung des Judentums nicht weit genug gehen. Er begrüßt auch, wenn Konversionen erleichtert werden – wenn man sich gegenseitig nicht das Leben schwer mache und frage, ob man ein
halachischer
Jude sei, sondern nach eineminklusiven Prinzip den Menschen ein religiöses Zuhause ermögliche. Ludi zählt mir auf, wie viele im Raum übergetreten sind. Es sind auch Afroamerikaner dabei. »Kein Problem! Wer die jüdische Ethik praktiziert, ist bei uns willkommen.«
Der liturgische Teil des Gottesdienstes ist relativ kurz. Längere Passagen werden in Englisch gesprochen. »Du kannst ruhig mitmachen«, flüstert mir Ludi zu, der merkt, wie ich mich versteife und nicht mitsprechen kann. Ein Gottesdienst ohne die unverständliche hebräische Geräuschkulisse, bei der man selbst entscheiden kann, ob man »irgendwie« mit einsteigt oder nicht – ein Gottesdienst, in dem vielmehr jedes Wort verständlich ist und der von mir verlangt, es auszusprechen, überschreitet alle meine in Jahren entstandenen Grenzen. Selbst die Schabbatlieder, die ich kenne, kann ich plötzlich nicht mehr mitsingen. Mit verschlossenen Lippen sitze ich neben Ludi. Doch dann beginnt der Rabbiner Bernie Cohn die Predigt. Ludi hat mich vor Beginn des Gottesdienstes über meine verwandtschaftlichen Beziehungen aufgeklärt. Ich bin über ein paar Ecken mit Berni verwandt – und ich bin direkt verwandt mit seiner Frau, Miriam, die vorne in der ersten Reihe sitzt. Sie ist die Tochter des Rabbiners Hugo Hahn, des letzten liberalen Rabbiners von Essen und Mitbegründers von
Habonim
am 9. November 1939, dem ersten Jahrestag der »Kristallnacht«.
Bernie zieht für seine Predigt einen Artikel aus der Jacketttasche. Es ist ein politischer Kommentar aus der
New York Times.
Leider weiß ich heute nicht mehr, worum es in dem Zeitungsartikel geht. Ich erinnere mich aber noch sehr genau an meine Verblüffung. Ich habe zu diesem Zeitpunkt noch nie eine jüdische Predigt gehört, die mit einem aktuellen Zeitungsartikel zum politischen Geschehen beginnt und ihn auf den Tora-Abschnitt dieses Schabbats bezieht – eine Predigt, bei der sich die Hörer als Mitglieder der amerikanischen Gesellschaft verstehen und diese selbstredend aktiv mitgestalten wollen.
»
Hier komme ich her
«, denke ich unvermittelt. »
Dies ist die Tradition, in der auch ich stehe
« – die es aber in Deutschland nicht mehr gibt.
Ich bin ihr aber auch in Deutschland schon begegnet.
Bereits während meines Volontariates beim
Tagesspiegel
besuche ich erstmals die Jüdische Gemeinde in Ostberlin. Die DDR hat beschlossen, die Ruine der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße zu restaurieren und darin ein Museum einzurichten. Aus diesem Anlass interviewe ich den damaligen Ostberliner Gemeindevorsitzenden Peter Kirchner.
Heute ist die goldene Kuppel der Synagoge ein unabdingbarer Akzent im Berliner Panorama. Damals fehlt die Kuppel. 1987 ist das eindrucksvolle, im maurischen Stil erbaute Gebäude noch eine düstere Ruine, von der sich kaum vorstellen lässt,
Weitere Kostenlose Bücher