Wie ich Rabbinerin wurde
plötzlich nicht nur sichtbar sein darf, sondern geradezu sichtbar sein
soll
.
Es wird vom SE D-Regime die Verantwortung der Deutschen für den Holocaust anerkannt – eine große Ausstellung über jüdische Geschichte im Ostberliner Ephraim-Palais veranstaltet, eine Publikation zum 50. Jahrestag des Novemberpogroms von 1938 zugelassen – und schließlich versucht, Beziehungen zu Israel aufzunehmen. Führende Repräsentanten des
World Jewish Congress
gehen dieser Strategie auf den Leim.
Auch ich fahre mehrfach nach Ostberlin, fasziniert von den dortigen jüdischen Aktivitäten. Die Gemeinde zählt in der Tat nur 180 Mitglieder, aber de facto leben in Ostberlin zwei- bis dreitausend Juden. Zwar sind die Mitglieder der Gruppe »Wir für uns« Sozialisten, zwar beherrschen sie alle in mehr oder minder starkem Maße die DD R-Rhetorik und zwar drehen sichviele ihrer Gespräche um ein Thema, das ich nicht kenne – warum dieser in »die Partei« eingetreten sei oder warum jener aus »der Partei« ausgeschlossen wurde oder was ein anderer beim letzten Treffen »der Partei« gesagt habe. Aber das steigert zunächst nur meine Faszination. Anders als die Mitglieder von
Habonim
, aber doch mit einer ähnlichen Intensität sind alle irgendwie in der Gesellschaft engagiert – als Sozialisten freilich, aber auch als Juden. Mit ihrer jüdischen Herkunft verbinden sie einen gesellschaftspolitischen Anspruch.
Viele von ihnen sind in der Emigration geboren, in den USA, in England oder in der Sowjetunion. So wie sich in den morbiden Häusern und Gebäuden Ostberlins durch systematische Vernachlässigung ein authentischer Hauch der Zeit, in der sie entstanden sind, konserviert hat, so spricht aus den Ostberliner Juden, die ich kennenlerne, noch etwas vom Geist der deutschen Juden vor der
Schoa
. Sie kennen die Bedingungen nicht, in denen sich das Nachkriegsjudentum der Bundesrepublik herausbildet – sie kennen nicht die Mischung von »Deutschen« und »DPs« aus Osteuropa, die jährlich
Jom Ha’azma’ut
feiern und sich mit der deutschen Gesellschaft nicht identifizieren. In vielen meiner Ostberliner Bekannten begegnet mir sogar das Selbstbewusstsein, zu den Siegern der Geschichte zu gehören und den Sozialismus mit verwirklicht zu haben. Die meisten haben intellektuelle Eltern. Fast alle sind antireligiös und lehnen die Vorstellung ab, in die Jüdische Gemeinde einzutreten. Von einigen erfahre ich jedoch, unter welchem politischen Druck die Eltern – als aktive Kommunisten – in den 50er Jahren genötigt worden sind, aus der Gemeinde auszutreten. Trotz antizionistischer Rhetorik träumen manche davon, einmal nach Israel zu reisen. Viele berichten mir, auf dieselbe Schule in Pankow gegangen zu sein. Man kennt sich – weiß voneinander, dass man jüdisch ist, aber man spricht nicht darüber. Man liest die Werke von Stefan Heym und Christa Wolf, man nimmt wahr, dass im Politbüro Albert Norden und Hermann Axen Juden sind, aber man würde weder sie noch sich selbst öffentlich als »Jude« bezeichnen. Zum Teil hat man das Wort verdrängt,zum Teil für überwunden geglaubt. Aber jetzt will man es endlich wieder aussprechen können.
Im November 1988 veranstalten anlässlich des 50. Jahrestages des Novemberpogroms »Wir für uns« und die »Jüdische Gruppe« einen gemeinsamen Kongress im Ostberliner »Klub der Kulturschaffenden«. Es ist das erste offizielle Treffen von Ost- und Westberliner Juden. So sehr mich die Begegnungen auf diesem Kongress auch bewegen, sind meine Erinnerungen doch getrübt von Momenten, in denen ich jäh aufwache. Es ist nicht nur die sozialistische Rhetorik in den wiederkehrenden Seitenhieben gegen die »BRD«, die mir aufstößt. Nach dem Fall der Mauer werden mehrere Kongressteilnehmer als IM der Stasi enttarnt. Das Ausmaß der Bespitzelung kann ich damals nicht ermessen – aber die beklemmende Präsenz des Überwachungsstaates ist bei diesem Kongress auch für mich spürbar, etwa wenn ich feststelle, dass ein vermeintlicher Freund etwas von mir weiß, was eigentlich keiner dort wissen kann. Dennoch führen die Begegnungen zu der für mich wichtigen Frage, wie sehr das, was man geworden ist, davon abhängt, wo man lebt. Wäre ich in New York aufgewachsen, wäre ich wahrscheinlich eine moderne,
Kippa
tragende Jüdin in der
Congregation Habonim
. Wäre ich in Ostberlin aufgewachsen, hätte ich vielleicht als sozialistische Jüdin zum Kreis von »Wir für uns« gehört und in derselben Rhetorik
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