Wie ich Rabbinerin wurde
konventionelle jüdische Ehe führen. Ich mache von vornherein zwar nicht den Eindruck, diesen Weg zu gehen, doch ich lehne ihn auch nicht ab. Aber ich ahne, dass ich bereits einen anderen Weg gehe, den zu formulieren es Mut bedarf, zumalich keine Anleitungen für ihn habe. Aber wo könnte ich meinem autodidaktischen Studium jemals einen konkreten Platz im Leben geben? Wer würde meine Herangehensweise mit mir teilen? Nach den traditionellen religiösen Vorstellungen müsste ich mich im orthodoxen Sinne an die jüdischen Gesetze binden – das heißt für mich als Frau: einen jüdischen Mann heiraten und eine jüdische Ehe führen. Ich müsste den Schabbat und sein absolutes Arbeitsverbot halten – also nicht mehr biblische Kommentare ausgerechnet an diesem Tag schreiben –, ich müsste einen
koscheren
Haushalt führen, vielleicht sogar die Reinheitsgesetze der Frau beachten und vor allem Kinder im Geist der jüdischen Tradition großziehen. Die Alternative hierzu wäre das »säkulare« Judentum, das die beiden jüdischen Frauen im Publikum der Begine verkörpern. Es praktiziert die Religion zwar nicht, aber es respektiert sie und würde sie niemals antasten. Wo hätte mein unkonventioneller Zugang zum
Tanach
und mittlerweile auch zum
Talmud
überhaupt einen Platz?
»Sie schwimmen noch«, meint Rabbiner Julius Carlebach als einzige Bemerkung zu meinem Artikel, dem die
Allgemeine Jüdische Wochenzeitung
eine ganze Seite eingeräumt hat. Es ist ein Debattenbeitrag, der sich an meine Generation wendet. Wir müssen – so meine Grundaussage – wieder die Inhalte der jüdischen Lehren lernen. Uns allein an Israel auszurichten oder uns über den Antisemitismus zu empören sei oftmals nur ein Ersatz, wenn positive Inhalte fehlten. Ich gebe auch ein paar talmudische Beispiele, wie spannend rabbinische Diskussionen im Lichte gegenwärtiger Fragen sein können.
Ich habe lange an diesem Artikel gearbeitet, halte ihn für mutig und bin deshalb stolz auf ihn. Von Rabbiner Carlebach, dem Rektor der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg, erhoffe ich mir einen unterstützenden Ratschlag. Doch seiner ausweichenden Bemerkung entnehme ich, dass mein freimütiger Zugang zu den heiligen Schriften nicht in seine orthodoxe Auffassung von Judentum passt.
Die Studienwoche in Heidelberg im Sommer 1989 bietet einen Einblick in die verschiedenen Gebiete der Judaistik. Ich bin mitnichten die Einzige, die längst den Weg der Erneuerung jüdischen Lebens in Deutschland beschreitet. Es sind junge Menschen aus verschiedenen jüdischen Gemeinden in Deutschland gekommen, die ich in den folgenden Jahren wiedersehen werde – unter anderem Lara Dämmig, die als einzige Teilnehmerin aus der DDR eingeladen ist. Die Woche ist vollgepackt mit interessanten Vorträgen, unter anderem von Carlebach selbst. Er setzt sich mit der Emanzipation der Frau auseinander und referiert über verschiedene Frauen, die in der orthodoxen Tradition gestanden und dabei Bedeutendes geleistet haben. Durch Carlebach lerne ich die »Weiber-Bibel« kennen – das
Ze’ena u-Re’ena
, eine im 17. Jahrhundert von Jakob ben Isaac aus Janow verfasste Übersetzung des Pentateuchs ins Jiddische mit rabbinischen Kommentaren. Sie wird für mehrere Generationen von jüdischen Frauen zum Bestseller.
Beim Schabbatessen der Gruppe stimmt Carlebach
Smirot
an. Manche singen mit, viele sind jedoch zu unsicher – über allem klingt Carlebachs antreibende Stimme. Ohne ihn würden die meisten sofort verstummen.
Auch er kommt mir plötzlich schrecklich allein vor.
Mit wem kann er seine Orthodoxie in Deutschland teilen? Wer singt mit ihm? Können »wir« überhaupt seine Schüler sein? Und kann er uns ein Lehrer sein – nicht nur einer, der Wissen vermittelt, nicht nur einer, der als einer von ganz wenigen Einzelnen das Gehäuse der Orthodoxie in Deutschland repräsentiert? Sondern einer, der als Rabbiner das vorlebt, was wir selbst auch fortsetzen würden – der uns eine Inspiration gibt, die wir wiederum der nächsten Generation übermitteln würden?!
»Wir sind eine Generation ohne Lehrer«, würde ich später oft sagen. Von Ausnahmen abgesehen verbindet kein gemeinsamer Strang die möglichen Lehrer mit den potentiellen Schülern.
Erst vor kurzem hat Maya verschiedene Freunde zu einem Besuch beim emeritierten Berliner Rabbiner Manfred Lublinereingeladen. Auch sie meint, dass wir uns verstärkt den Quellen zuwenden müssen. Aus dem erhofften »Lernen mit einem
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