Wie ich Rabbinerin wurde
dass ich einer zertrümmerten Welt entstamme, in der es kein intaktes jüdisches Leben mehr gibt und möglicherweise auch nicht geben kann – alles lasse ich hier an diesen Trümmern des zerstörten Tempels, an dieser ursprünglichsten Wunde in der jüdischen Geschichte aufsteigen und sich von meinem Schmerz entzünden. Ich könnte in Israel bleiben – die
Galut
hinter mir lassen und in das israelische Judentum einsteigen, in die orthodoxe Welt der
Jeschiwa
, in der es keine Zweifel und Brüche gibt, oder in das säkulare Judentum der meisten Israelis, das für Ambivalenzen genauso wenig Raum bietet. Keine Verpflichtung bindet mich derzeit an etwas. Ich könnte mich für das eine oder für das andere entscheiden – und in meine Entscheidung hineinwachsen.
In welche Richtung soll ich mich wenden?
Der Schmerz kulminiert schließlich in einen Moment, in dem ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Auch das lasse ich zu, verbringe mitunter Stunden zwischen den wimmernden Frauen an der
Kotel
– immer mit dieser einen Frage.
Nach
Jom Kippur
vernehme ich meine Antwort:
Geh zurück nach Deutschland. Alle deine Fragen stellen sich nur dort und werden sich nur dort beantworten.
Sogleich beginnt der Schmerz abzuklingen. Ab jetzt kann ich es benennen. Ich entstamme einer nicht intakten jüdischen Welt, einem
sche’erit haplejta
– einem »Restder Versprengten«, von dem schon die Propheten in der Bibel sprechen. Es hat immer zwei Stränge in der jüdischen Geschichte gegeben – ein ungebrochenes Judentum ebenso wie einen traumatisierten »Rest«, der die Katastrophen überstanden hat, die größere Vergangenheit jedoch noch bezeugen kann und mit diesem Wissen eine größere Zukunft entwirft. Die größten Werke, auf denen das Judentum heute steht, sind das Zeugnis dieses »Rests« – die Redaktion der Bibel als Reaktion auf den Untergang der Königreiche, die Entstehung des Talmud als Reaktion auf das Niederbrennen des Tempels, wichtige kabbalistische Schriften als Reaktion auf die Vertreibung aus Spanien. Und so gibt es auch heute nach der
Schoa
noch einen »Rest«, der um die größere Vergangenheit der Juden in Deutschland, in Europa weiß. Die N S-Zeit hat den geistigen und kulturellen Reichtum des deutschen Judentums nicht entkräftet. Kein noch so attraktives Modell von einem intakten Judentum – sei es die Orthodoxie der Lehrer in der Jerusalemer
Jeschiwa
, sei es das weltlich-zionistische Tel Aviv – kann meine Welt ablösen oder ersetzen. Der einzige Weg, der für mich zu etwas führt, ist, die im
sche’erit haplejta
keimenden Erkenntnisse zum Gedeihen zu bringen. Sowenig ich jetzt sagen kann, wohin dieser Weg führt, werde ich ihn doch gehen und herausfinden, welche tieferen Dimensionen er enthält, aus denen ein sich erneuerndes Judentum – sogar in Deutschland – erwachsen kann.
Diese plötzliche Klarheit erhält unmittelbar nach meiner Rückkehr nach Berlin einen weiteren Schub an Gewissheit. Einen Tag nach meiner Ankunft ruft mich Boike Jakobs, eine Redakteurin der
Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung,
an. Ob ich nicht Lust hätte, eine Reportage über Juden in Ostberlin zu schreiben? Es wäre nicht das erste Mal. Ich erkläre, dass ich gerade von einem mehrmonatigen Israelaufenthalt zurückgekommen sei und mich erst wieder einleben wolle. Aber Boike drängt mich. Ihre Stimme am Telefon klingt ungewöhnlich aufgeregt. Sie will die Reportage am liebsten heute noch.Ich habe in den letzten Monaten kaum Nachrichten gesehen, nur ganz entfernt die Flucht Hunderter von DD R-Bürgern nach Prag und Budapest mitbekommen. Ist etwas Besonderes geschehen?
Boike ruft beschwörend in den Hörer: »Elisa – die Mauer ist gefallen!«
5. Amalek
S ich in Deutschland mit
Amalek
zu beschäftigen, bedeutet einen Versuch, die
Schoa
theologisch einzuordnen. Der Schabbat vor dem
Purim -Fest
, bei dem die Juden ihre Rettung durch Königin Esther feiern, heißt
Schabbat Sachor
(»Gedenke!«). Die Tora-Lesung im Morgengottesdienst enthält drei zusätzliche Verse:
Gedenke, was dir Amalek getan auf dem Wege bei eurem Auszuge aus Ägypten, der dich traf auf dem Wege, und deine Nachzügler erschlug, all die Schwachen hinter dir – du aber warst matt und müde – und fürchtetest Gott nicht. Und es soll geschehen, wenn der Ewige dein Gott dir Ruhe schafft von all deinen Feinden rings herum in dem Lande, das der Ewige dein Gott dir als Besitz gibt, es einzunehmen, sollst du auslöschen das Gedächtnis Amaleks
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