Wie ich Rabbinerin wurde
Rabbiner« wird jedoch eine Predigt »von oben« über die allgemeinen Werte des Judentums – Freiheit, Ethik, Achtung vor dem Fremden. Das Treffen verläuft im Nichts, es findet nur ein Mal statt. Möglicherweise liegt es am Selbstverständnis des Rabbiners, der zwar die richtigen Werte anspricht, aber zu keiner kontroversen Diskussion ermuntert, die eigene Erkenntnismomente erlaubt oder gar zu neuen Lebenseinstellungen anstößt.
Während der Studienwoche in Heidelberg wird mir einer der Gründe bewusst, warum meine Generation so lange vom jüdischen Wissen abgeschnitten bleibt und es zunächst auch nicht anwenden kann. Es liegt an der ambivalenten Haltung, durch die unsere möglichen Lehrer selbst befangen sind. In ihr schwingt stets mit, dass es im deutschen Kontext kein jüdisches Leben mehr geben kann. Beim Schabbat-Essen redet Carlebach, der einer renommierten Hamburger Rabbinerfamilie entstammt und in der N S-Zeit nach England emigriert ist, über seine Zweifel, ob man im Land der
Schoa
überhaupt noch jüdische Studien betreiben könne. Es gehe nicht nur um die zwölf Jahre des N S-Regimes . So viele namhafte deutsche Dichter und Denker, die das geistige Umfeld bis in die heutige Zeit prägen, seien Antisemiten gewesen und damit Wegbereiter der
Schoa
– Fichte, Hegel, Schopenhauer …
Carlebachs Einstellung ist mir bekannt. Ich denke selbst so – bin fixiert auf den antijüdischen Aspekt deutscher Geistesgeschichte und mache ihn zum Gegenpol jüdischer Geistesgeschichte. Beide Pole sind für mich unvereinbar.
Doch in diesem Augenblick widerspricht Peter Jaffé, ein Deutsch- und Geschichtslehrer, den ich noch aus Hamburg kenne. Er bringt einen Einwand, der mich lange beschäftigen wird. Es habe keinen Sinn, die ganze deutsche Geschichte allein aus dem Kristallisationspunkt des N S-Regimes heraus zu bewerten. Dass die genannten Philosophen Antisemiten gewesen seien, stehe außer Zweifel. Ob ihr Denken zwangsläufigzur
Schoa
führen musste, sei jedoch fraglich. Viele Juden, die nach Assimilierung gestrebt haben, hätten ähnlich wie diese Philosophen gedacht. Heute gilt die Haltung der damaligen deutschen Juden als verwerflich. Ihnen jedoch vorzuwerfen, sie hätten die
Schoa
mit vorbereitet, sei zynisch. Sie hätten nicht wissen können, was 200 Jahre später geschieht. Ein deterministisches Geschichtsbild wie das von Carlebach – so gibt Peter zu bedenken – verstelle nicht nur den Blick für die vielfältigen Möglichkeiten, die jeder historischen Situation innewohnen, von der niemand mit letzter Klarheit voraussehen kann, wie sie sich entwickeln wird – schlimmer noch: Es schafft Agonie in der Gegenwart und verstellt den Blick für die möglichen Wege, die man heute gehen kann.
Drei Monate lang lerne ich Hebräisch im
Ulpan
der Tel Aviver Universität – zusammen mit verwöhnten, vorlauten amerikanischen Highschool-Absolventen, die von ihren Eltern eine Israelreise geschenkt bekommen haben. Ich komme mit dem Gefühl ins Land, eine Entscheidung treffen zu müssen. In meinem Hinterkopf gibt es seit der Zeit im Düsseldorfer Jugendzentrum die nie zu Ende gedachte Vorstellung, selbst einmal
Alija
zu machen.
Doch etwas ist mit mir in der Zwischenzeit passiert.
Die israelische Mentalität, die mit jedem Atemzug bedeutet, das »Joch des Exils« abgeworfen zu haben, ist mir nicht neu. Meine Onkel und Tanten sind stolze Israelis, meine Cousins und Cousinen selbstbewusste
Sabras
. Erstmals stört es mich jedoch, dass mein Leben in Deutschland in den Gesprächen mit Israelis keinerlei Bedeutung findet. Zwar werde ich inzwischen nicht mehr so oft gefragt, wie ich als Jüdin überhaupt noch in Deutschland leben könne. Aber doch durchzieht so gut wie alle Gespräche eine ideologische Abwertung der
Gola
. Erstmals verletzen mich die Witze über die
Jekkes
, die deutschen Juden, von denen ich schon Hunderte im Leben gehört und früher selbst gern darüber gelacht habe. Nicht dass es an meinem Leben in Berlin etwas zu idealisieren gäbe. Seine jüdischenAspekte sind jedoch selbst in ihrer Widersprüchlichkeit so viel facettenreicher und anregender als die geisttötende Selbstgewissheit vieler Israelis, mit der sie meinen, auf die Länder, die sie hinter sich gelassen haben, nicht mehr zurückblicken zu brauchen. Ohnehin beanspruchen die fortwährenden Meldungen über arabische Feindseligkeiten, vor allem die Intifada in den besetzten Gebieten, die Steine werfenden palästinensischen Jugendlichen
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