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Wie ich Rabbinerin wurde

Wie ich Rabbinerin wurde

Titel: Wie ich Rabbinerin wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisa Klapheck
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und die täglichen Attentatsdrohungen, alle Aufmerksamkeit.
    Bei der Bekannten, bei der ich wohne, erkundige ich mich nach einer modernen
Jeschiwa
, wo ich auch als Frau Tora und Talmud lernen könnte. Zum ersten Mal bezeichne ich mich als »religiös«:
Ani datija
. Sie lacht mich aus. Ich sei doch nicht »religiös«! Religiös –
dati
– sind nur die orthodoxen Juden. Tatsächlich gibt es im modernen Hebräisch kein Wort, das meine Religiosität ausdrücken könnte.
    Die Feiertage –
Rosch Haschana
und
Jom Kippur
– verbringe ich in Jerusalem. Dort habe ich mich an der
Kotel
von »Religiösen« ansprechen lassen, die junge Menschen in eine
Jeschiwa
einladen. Es ist
Aish HaTorah
, eine Einrichtung, die mit speziellen
Outreach
-Programmen »säkulare« Juden zum orthodoxen Judentum zurückführen will. Sie ist Vorposten einer Entwicklung, die heute immer größere jüdische Kreise erfasst und die israelische Gesellschaft zu unterwandern droht. Mehrere Wochen wohne ich gratis in dieser
Jeschiwa
, akzeptiere dabei die strikte Geschlechtertrennung und ein Weltbild, das jeder gebotenen Handlung einen tieferen spirituellen Sinn verleiht. Darin versinkt die nichtjüdische Außenwelt sowie jegliches weltliche Judentum in immer tiefere Unerheblichkeit. Die meisten, die in dieser
Jeschiwa
lernen, sind Amerikaner, die zuvor areligiös und politisch eher liberal, wenn nicht gar links eingestellt gewesen sind. Ihr bisheriges Leben erscheint ihnen plötzlich wertlos. Ich werde Zeugin, wie mehrere der neu Angeworbenen in existentielle spirituelle Krisen abgleiten, um dann allein noch Halt im orthodoxen Judentum zu finden zu meinen.
    Aber auch bei mir wirkt das »Brainwashing« vorübergehend. Drei Monate bin ich in Tel Aviv gewesen, ohne dort wirklichen Anschluss gefunden zu haben. Diese
Jeschiwa
bietet mir plötzlich einen religiösen Ort, an dem ich willkommen bin. Anfangs stoßen mir die rechtsnationalen Maximen, die die Lehrer ganz selbstverständlich äußern, noch auf. Danach habe Gott den Juden das biblische Israel für alle Zeiten zum Besitz gegeben. Anfangs nehme ich auch den Ernst, mit dem die
Halacha
nicht nur praktiziert, sondern bis ins kleinste Detail erörtert wird, respektvoll als Merkmal dieser Einrichtung zur Kenntnis, ohne dies noch auf meine eigene Lebensrealität zu beziehen. Anfangs missfällt mir auch das Formular, das man ausfüllen muss und darin angeben soll, ob die Mutter Jüdin sei und der Vater Jude.
    Doch schon nach einigen Tagen reißt auch mein Faden zur Außenwelt ab. Für eine wenngleich nur kurze Zeit erfahre ich an mir selbst, wie es funktioniert, wenn sich alle bisherigen Bezüge auflösen und ein hermetisches Weltbild zu greifen beginnt. Ich frage mich tatsächlich, ob ich orthodox werden sollte. Mehrere Jahre habe ich nun im Selbststudium die Hebräische Bibel gelernt, ohne – wie mir jetzt scheint – ihre Lehren in eine gelebte Realität mit anderen Juden integrieren zu können. Ist nicht vielleicht die einzige Antwort, mich einer orthodoxen Gemeinschaft anzuschließen – in der zwar nicht auf meine Weise, aber doch auf eine Weise, nicht erneuernd, aber immerhin seit Jahrhunderten wie gehabt die jüdische Religion Gültigkeit besitzt? Ist nicht das Leben nach den gesetzestreuen Vorstellungen das Einzige, was am Ende bleibt?
    Was mich in der Welt hält, ist mein täglicher Weg zur Westmauer – der
Kotel
. Jeden Tag zwischen den
Jamim Nora’ im
gehe dorthin, stelle mich auf der Frauenseite zwischen die betenden und weinenden Frauen. Ich habe selbst angefangen, bewusst zu beten. Aber es ist ein anderes Gebet als die Gebete, die in den täglichen Gottesdiensten der
Jeschiwa
gesprochen werden. Es ist eigentlich nur eine Frage:
    In welche Richtung soll ich mein Leben wenden?
    Mehrere Tage brennt in mir – jedes Mal, wenn ich mit dieser Frage an der
Kotel
stehe – ein durch meinen Aufenthalt in der
Jeschiwa
begünstigter, seelischer Schmerz. Er macht mich von Tag zu Tag immer ortloser. Alle Erinnerungen – an Lilo und Konrad, an die Geschichten über meine vier Großeltern und sogar die Urgroßeltern   –, alle meine bisherigen Lebensstationen – die Zeit in Düsseldorf, in den Niederlanden, in Hamburg und in Berlin – steigen in diesem Schmerz auf, entzünden sich und verlieren sich dann in dem täglich heftiger werdenden Brennen. Ich vertraue darauf, dass es mich nicht in einen Abgrund führt. Die Tatsache, dass ich in Deutschland lebe, dass ich zugleich deutsch und jüdisch bin,

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