Wie immer Chefsache
niemals ankommen. Du musst die Küste im Blick haben und mit beiden Rudern, mit Kraft und Ausdauer darauf zurudern«, setzte sie fort.
Mattes unterbrach sie: »Ich hab nicht mal ein Boot. Und ich bin gar nicht so für Wassersportarten.«
»Du bist für überhaupt nichts«, sagte sie genervt. »Setz dich einmal im Leben für etwas ein. Dieses Rumdümpeln kann doch nicht ewig weitergehen. Du bist der Einzige in der Familie, der mit Ende Dreißig immer noch durchs Leben trödelt. Wann willst du mit deiner Karriere anfangen? Bald ist es zu spät. Dann sitzt du auf ewig mit deinem blöden Köter bei mir rum und ich füttere dich durch.« Etwas liebevoller fragte sie: »Wie sieht es bei dir im Kühlschrank aus? Hast du noch genug zu essen?«
»Astrid!«, fuhr Mattes genervt auf. »Bisher musste ich nicht hungern. Im Gegenteil. Jetzt tu doch nicht so, als würde ich nicht für mich sorgen können. Ich kann mich im Übrigen nicht weiter mit dir über Boote und meinen nahenden Hungertod unterhalten, weil ich weg muss.«
»Ach, wieder ein Termin?«, fragte Astrid spitz.
»Ja«, bestätigte er, ohne näher darauf einzugehen. Er brachte Mina in die Wohnung zurück, nahm ein labberiges Brötchen aus der Küche und ging kauend zum Auto.
Kaum hatte er die Redaktion betreten, stellte Tina den Kopierer aus, an dem sie schon wieder beschäftigt war, und rief: »Sie kommt gleich in Ihr Büro, und sie geht mit Ihnen hin und danach Kaffee. Oder lieber vorher?«
Sie, das war vermutlich die Althoff. Aber was wollte Tina ihm sonst noch sagen?
»Danke«, antwortete Mattes unbestimmt und beließ es dabei. Da wartete er doch lieber auf Frau Althoff, die ihm das verständlich sagen würde. Tina hakte nach: »Was nun? Vorher oder nachher?«
»Nachher«, sagte Mattes auf gut Glück, sah ihr hinterher, als sie um die Ecke bog, und hoffte, dass sie den Kaffee meinte.
Er öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches. Sie war leer. Ebenso wie alle anderen. Sauber ausgeräumt, dachte Mattes. Was hatten sie hier verschwinden lassen? Ihm fiel ein, dass es einen Beweis für die Existenz des vorherigen Chefredakteurs gab: das Namensschild an der Tür. Triumphierend ging Mattes vor sein Büro und starrte auf ein neues Schild, das seinen Namen trug. Frau Althoff kam aus ihrem Büro.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.
Jetzt ganz ruhig bleiben und nicht zeigen, dass man ihnen auf der Spur war. Gelassen blickte Mattes sich um.
»Nein, nein. Alles in Ordnung.«
»Dann können wir uns jetzt mit Herrn Plattler und Frau Berger treffen. Ich habe mir gedacht, dass Sie die beiden in ihrem jeweiligen Arbeitsbereich kennenlernen möchten.«
Als er Frau Althoff durch den Flur folgte, reckte er sich und hob den Kopf. Ich bin der Chef, dachte er, und das muss ich mit meiner Haltung ausdrücken, wenn ich den beiden Magazin-Profis entgegentrete, denen ich nichts über die Herstellung einer Zeitung erzählen kann, was sie nicht viel besser wissen. Die müssen mir nur eine Frage stellen und merken sofort, dass ich keine Ahnung habe. Am besten antworte ich nicht, wenn es auf unbekannte Gebiete zugeht. Obwohl – gibt es für mich hier überhaupt etwas anderes als unbekannte Gebiete? Über Klatschmeldungen und Goldhochzeiten werden sie wohl kaum sprechen wollen. Wenn die erfahren, was ich bisher gemacht habe … Frau Althoff war stehen geblieben, klopfte kurz an eine Tür, ehe sie sie aufdrückte und Mattes zuraunte: »Frau Berger, Communication Managerin.«
Mattes musste schlucken. Jetzt kam es darauf an, wie gut er den Chef vorspielen konnte. Andere waren so schlau, in solchen Situationen mit Anzug zu kommen, um zu beeindrucken, aber dafür war es jetzt zu spät. Außerdem hätte er gar keinen Anzug gehabt. Und ob ihm einer von Godehard gepasst hätte? Nein, der war schmaler und größer. Außerdem, was ging ihm da gerade für ein Unsinn durch den Kopf? Er wollte gar keinen Anzug von Godehard tragen. Rostbraune Krawatten? Niemals! Er war Chefredakteur in Jeans und Sweatshirt-Jacke, und das war sein Markenzeichen. Betont lässig betrat er das Büro, streckte seine Hand nach vorne und ergriff die schmale, drucklose Hand einer jungen Frau, die ihn erstaunlich eingeschüchtert anblickte.
»Hallo«, sagte sie mit leiser Stimme.
Ihre halblangen Haare hingen glatt um ihr Gesicht und ließen sie jünger aussehen, als sie vermutlich war. Eins war klar: Sie nahm ihm den Chef voll ab, schien aber auch keine großen Ansprüche an irgendwelche schauspielerischen
Weitere Kostenlose Bücher